"Ich glaube, ich kann nur mit Musik glauben"

Chor der der St. Thomas Becket Anglican Church in Hamburg
Foto: Maxim Sergienko
Yotin Tiewtrakul leitet den Chor der der St. Thomas Becket Anglican Church in Hamburg.
"Ich glaube, ich kann nur mit Musik glauben"
Singen im Chor macht mehr Spaß als alleine singen - beim Chormeister-Wettbewerb von evangelisch.de gibt es dafür zahlreiche schöne Beispiele. Viele Menschen können sich ein Leben ohne gemeinsamen Gesang gar nicht vorstellen, so auch der Komponist, Kantor und Chorleiter Yotin Tiewtrakul aus Aumühle bei Hamburg. Im Interview erzählt er, welche spirituelle Bedeutung das Singen für ihn hat.
03.07.2013
evangelisch.de

Sie sind studierter Komponist und arbeiten als Kantor. Könnten Sie ohne Musik leben?

###mehr-personen### Yotin Tiewtrakul: Hm… Das ist ganz witzig: Nach dem Studium hab ich nicht mehr so viel Musik gehört, sondern einfach Musik gemacht. Und jetzt entdecke ich es gerade wieder und genieße es, einfach Musik zu hören. Musik machen, Musik hören – das kann man überhaupt gar nicht trennen. Leben und Musik oder Klang machen und sich ausdrücken, das ist eigentlich immer Menschsein. Insofern: Nein. Das gehört für mich zusammen.

Welchen Unterschied macht es, ob Sie Musik hören oder selbst machen?

Tiewtrakul: Ich glaube, man ist in demselben Raum. Selbst wenn man Musik hört, ist man mit dem Menschen zusammen, der diese Musik gerade macht und man vollzieht das mit dem Ohr mit. Deswegen sehe ich da kaum eine Trennung beim Hören. Das hat etwas mit Kommunikation zu tun: Beim Musizieren kommuniziere ich mit den Menschen, mit denen ich zusammen Musik mache, und dieselbe Kommunikation geschieht auch, wenn ich nur passiv zuhöre. Trotzdem bin ich dann da und bin auch irgendwie mit involviert.

Was ist Ihre Lieblingsmusik?

Tiewtrakul: Ich hab ganz lange gedacht, dass ich immer Bach hören könnte. Es gab dann aber vor ein paar Jahren eine Zeit, da konnte ich das gar nicht mehr so gut hören, weil da so viel passiert, weil die Musik so super komplex ist. Im Moment arbeite ich ja in einer englischen Kirche, wo es Renaissance-Komponisten gibt, die viel flächiger sind. Das gefällt mir im Moment einfach besser. Ich glaube, das verändert sich einfach von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt, was einem so gefällt. Im Moment sind mir Flächen lieber, wo nicht immer so schnell so viel passiert. Das muss aber auch nicht unbedingt nur Renaissancemusik sein, sondern es könnte vielleicht auch elektronische Musik sein.

Bevorzugen Sie eher ältere Musik oder hören Sie auch manchmal ganz aktuelle Sachen?

###mehr-links### Tiewtrakul: Ich weiß nicht, woran das liegt, dass das so voneinander getrennt wird - das verstehe ich nicht. Natürlich ist es komisch zu sagen: "Ich hör alles", das stimmt dann wiederum auch nicht. Was einem gefällt, hängt nicht davon ab, ob es alt oder neu ist, sondern ob die Musik einen Aspekt hat, der mir jetzt gerade ganz wichtig ist. Das habe ich eben mit den "Flächen" gemeint. Das ist zum Beispiel ein Aspekt, der sich in sehr alter Musik findet und auch in sehr archaischer Musik, zum Beispiel in Wiederholungsgesängen, die im spirituellen Bereich verwendet werden. Das sind jetzt im Moment gerade Sachen, die mich interessieren. Vielleicht interessiert mich irgendwann auch wieder etwas ganz Komplexes, das weiß ich nicht.

Ist gemeinsames Singen im Chor anders als allein singen oder allein Musik hören?

Tiewtrakul: Auf jeden Fall. Das Reagieren aufeinander ist einfach wesentlich, glaube ich. Das Schöne am gemeinsamen Singen ist komischerweise die Erfahrung der eigenen Stimme, die dann quasi dadurch verstärkt wird, dass andere etwas mitmachen oder eine Zweitstimme dazu singen. Das ist eine ganz reiche Erfahrung.

"Der Gottesdienst muss den Menschen ein Erlebnis schenken, das Sinne und Verstand anspricht"

Wie wichtig finden Sie Musik im Gottesdienst? Können Sie sich einen Gottesdienst ohne Musik vorstellen?

Tiewtrakul: Ich kann mir das schon vorstellen, aber es würde etwas Wesentliches fehlen. In lutherischen Gemeinden gibt es immer diesen starken Gegensatz zwischen dem Pastor und der Kirchenmusikerin, das finde ich doof. Das ist immer wie der Kampf der Titanen. Beide verkörpern einen Archetyp: Der Pastor ist derjenige, der für das Geordnete steht und für die Worte, die einem eine Erkenntnis schenken. Und die Kirchenmusikerin ist auf der anderen Seite diejenige, die das Emotionale verkörpert oder etwas, das nur ohne Worte entstehen kann.

Würden Sie sagen, dass umgekehrt auch die Worte die Sinne ansprechen können uns die Musik den Verstand?

Tiewtrakul: Ja, das geht beides. Das muss sich beides ergänzen zu einer gemeinsamen Sache. Der Gottesdienst ist eine Art Gesamtkunstwerk, in dem diese verschiedenen Kräfte und Elemente zusammenkommen. Er muss den Menschen ein Erlebnis schenken, das Sinne und Verstand anspricht.

Sie praktizieren auch Meditation in Stille. Ist die Stille auch musikalisch? Oder ist es die Abwesenheit von Musik?

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Tiewtrakul: Das Schweigen ist dazu da, um aufmerksam zu sein. Deswegen ist da schon ein wesentliches Element von Musik drin, nämlich aufmerksam zu sein, da zu sein. Musik ist ja interessanterweise eine Kunst, die immer nur in der Gegenwart passiert. Man singt einen Ton und dann kommt ein nächster Moment und dann wieder ein nächster Moment. Deswegen gibt es schon eine Verbindung zum Meditieren, weil dort auch die Aufgabe ist: Bin ich da, wo ich gerade bin? Oder werde ich durch meine Gedanken zu Erinnerungen gezogen oder zu Planungen in die Zukunft? Das hat schon was miteinander zu tun, ja.

Hilft Musik Ihnen beim Glauben?

Tiewtrakul: Ich glaube, ich kann nur mit Musik glauben. Während die Musik klingt oder während wir einen Gottesdienst oder ein Ritual feiern, geschieht Glaube – in diesem Vollzug. Es kann auch sein, dass dann, wenn man aus diesem Fest heraustritt, auch wieder ganz andere Dinge kommen, dass da auch Zweifel sind. Aber es hilft, Worte zu benutzen, die Menschen vor einem benutzt haben, und etwas zu feiern, von dem man weiß: Ich kann nicht drüber verfügen. Deswegen hilft mir Musik schon zum Glauben.

Yotin Tiewtrakul ist Kantor und leitet den Chor der Anglikanischen Kirche St. Thomas Becket in Hamburg.