Wittgenstein: Kirche fährt zu den Menschen

Der Generationenbus der Lukasgemeinde
Foto: evangelisch.de/Anne Kampf
Der Generationenbus ist ein Symbol des Aufbruchs im Eder- und Elsofftal: Er verbindet die Menschen miteinander.
Wittgenstein: Kirche fährt zu den Menschen
Auf dem Land werden die Menschen älter und weniger. Was soll die Kirche tun – außer ihre Traditionen zu pflegen? In unserer Serie "Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen" stellen wir Gemeinden vor, die sich etwas einfallen lassen. Die Lukasgemeinde im Eder- und Elsofftal (Südwestfalen) will für die Menschen da sein und schaut, was die an dringendsten brauchen: Betreuung für Kinder und Senioren – und einen Bus.

Ein Spätsommervormittag in Elsoff, Wittgenstein. Zwei Bäche schlängeln sich durch die Fachwerk-Idylle, in den Blumenkästen blüht es üppig in rosa und weiß. Die Bewohner fegen das Kopfsteinpflaster oder decken den Tisch im Hof. Aus einem Garten hört man eine Motorsäge kreischen, und alle paar Minuten knattert laut ein Traktor vorbei. "Wenn Sie das nicht hören, stimmt was nicht", sagt Ralf Kötter beim Gang durch den Ort.

Ralf Kötter fühlt sich als Pfarrer vor allem für die Kommunikation des Evangeliums und für das Sozialmanagement verantwortlich.

Kötter ist Pfarrer für fünf Dörfer – momentan durch eine Vakanzvertretung sogar für sieben. Elsoff, Schwarzenau, Alertshausen, Beddelhausen, Christianseck plus Diedenshausen und Wunderthausen gehören zur Stadt Bad Berleburg im Kirchenkreis Wittgenstein, Südwestfalen: Hier gibt es nur Wald und Wiesen, Land- und Forstwirtschaft, Sägewerke, ein bisschen mittelständische Industrie. Die 1800 Mitglieder der Lukasgemeinde sind auf 60 Quadratkilometer verteilt.

Eine Kirchengemeinde in solcher Lage hat zwei Möglichkeiten: Ihre Traditionen und die 1000 Jahre alte Kirche pflegen, Frauenhilfe und Chor am Leben erhalten, bis sich beides von selbst erledigt hat. Die Lukasgemeinde, die sich 2006 durch die freiwillige Fusion der Kirchengemeinden Elsoff und Schwarzenau gebildet hat, wartet nicht darauf, dass wieder mehr und jüngere Menschen zur Kirche kommen. Sondern sie geht als Kirche in die Gesellschaft hinein, kümmert sich um das, was die Menschen hier in ihrem Alltag wirklich beschäftigt. Soziologisch würde man das "Sozialraumorientierung" nennen, Pfarrer Kötter begründet das Prinzip theologisch. "Evangelisch denkt man christologisch", erläutert er, "immer von dem her, was Gott in Jesus Christus getan, gezeigt, gelebt hat. Er hat auf seine eigene Position verzichtet, um bei anderen zu sein."

Eine Kirchengemeinde könne nach demselben Prinzip handeln, sagt Ralf Kötter: "Der Glaube ist die Möglichkeit, an dieser Bewegung zu partizipieren, von sich selbst frei zu sein, weil ich weiß, es ist alles getan. Und wenn ich das schaffe, von mir selbst wegzusehen, dann wird der Blick frei für das, was um mich herum ist, wo ich mich kümmern kann, so wie Gott sich immer gekümmert hat." Der Pfarrer beginnt beinahe zu predigen, als er die Begriffe "Inkarnation" und "Partizipation" erklärt, doch genau das soll es nicht sein. "Karl Barth hat geschrieben: Kirche redet am besten durch das, was sie ist", sagt Kötter. Während seiner Zeit an der Uni Münster hat er sich mit dem Reformator Johannes Bugenhagen beschäftigt, der damals in Wittenberg Christengemeinde und Bürgergemeinde zusammenbrachte und beinahe zum Sozialmanager wurde. Die Kirche, ist Ralf Kötter überzeugt, hat ihren Platz mitten in der Welt.

Ganz wie der Reformator Bugenhagen begann Kötter in Wittgenstein, die Akteure in den Dörfern anzusprechen: Firmenchefs und Lehrerinnen, Diakonie und Kindergärten, Politiker, Ortsvorsteher und die Stadtverwaltung von Bad Berleburg. Die meisten waren froh darüber, dass die Kirche einen Prozess anstieß, der seit 2011 offiziell "Eder- und Elsofftal mit Zukunft" heißt und der mittlerweile über die Gemeinde hinaus wirkt: Menschen aus Wunderthausen und Diedenshausen haben sich gemeldet und machen mit.

Das Leben bleibt in der Nachbarschaft

Die Gemeinde sorgt für das, was die Menschen hier wirklich brauchen. Auch auf dem Land sind traditionelle Großfamilienstrukturen weggebrochen, Eltern gehen oft beide arbeiten. Wohin mit den Kindern nach der Schule und mit den Alten, wenn sie dement werden? Vier 400-Euro-Kräfte und etliche Ehrenamtliche kümmern sich um sie. Außerdem brauchen Jugendliche und ältere Menschen mehr Mobilität, wollen mal nach Bad Berleburg oder müssen zum Arzt. Dafür gibt es den Generationenbus der Lukasgemeinde, einen Neunsitzer, den ein Unternehmer gespendet hat. Die Fahrer sind Ehrenamtliche – Männer, die gern etwas bewegen. Bei Bedarf holt der Bus auch die Seniorinnen und Senioren zuhause ab, die einmal pro Woche die Tagesbetreuung im Gemeindehaus besuchen.

Seniorenbetreuung in Elsoff: Inge Grauel (re) ist froh, dass Betreuerin Marion Bock in ihrer Nähe ist.

An diesem Mittwochvormittag im September haben sie gesungen. "Der Herbst ist gekommen, die Bäume schlagen aus", stimmt Inge Grauel an und blickt dabei verträumt gen Himmel. Momentan sind nur drei ältere Damen in der Betreuung, es war mal voller hier. Pfarrer Kötter nimmt am Tisch Platz und lacht, als ihm Inge Grauel ganz unvermittelt zuruft: "Morgen heirate ich dich!"

Da muss auch Trijntje van Roosmalen (85) grinsen, eine Holländerin, die hier in Elsoff bei ihrer Tochter wohnt. Ihr Mann starb vor kurzem, "ich fühlte mich einsam zu Hause", sagt sie. In der Betreuung geht es Frau van Roosmalen besser. Fröhlich kommentiert sie den Schoko-Vanille-Pudding, den es heute zum Nachtisch gibt: "Da könnte auch noch ein bisschen Eierlikör drauf!" Alle lachen, nur Hilda Riedesel hat den Spaß nicht mitbekommen, die 96-Jährige kann nicht mehr so gut hören wie laufen. Jeden Mittwoch führt eine Mitarbeiterin sie im Dorf spazieren.

"Wir haben so tolle Ehrenamtliche", schwärmt Betreuerin Marion Bock, die für die Diakonie arbeitet, "und wir verstehen uns so gut". Sie hat die Vision, an jedem Wochentag Seniorenbetreuung anzubieten – und zwar jeden Tag in einem anderen Dorf. "Man kennt die Familien, man ist nicht so anonym, das ist das Gute am Dörflichen", sagt Marion Bock. Die Angebote sollen dezentral aufgebaut werden – so entsteht im Nachbarort Schwarzenau gerade eine Seniorenwohnanlage. Dadurch wird die Stadt ein leer stehendes Haus los, private Investoren bauen die Wohnungen, eine Diakoniestation im Haus versorgt die älteren Menschen nach Bedarf und die Kirchengemeinde beteiligt sich an der Eigentümergemeinschaft, die das Haus trägt. "Die Wege sind kurz und das Leben bleibt in den Nachbarschaften", zählt Ralf Kötter die Vorteile auf.

Familien schaffen sogar noch ein drittes Kind

Eine Gemeinde, die so mit Menschen umgeht, heißt nicht ohne Grund "Lukas". Das theologische Leitbild des Evangelisten passt zu ihr. Da ist zum Beispiel das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter: "Plötzlich liegt jemand vor deinen Füßen, und jetzt gehst du nicht in den Tempel, sondern jetzt ist derjenige, der da vor deinen Füßen liegt, deine Herausforderung. Da muss der Tempel auch mal einen Moment zurück stehen", appelliert Pfarrer Ralf Kötter. Ob die Menschen sonntags in den Gottesdienst kommen oder nicht, ist für ihn nicht das Wichtigste. Hier zählt nicht die Konzentration der Kirche auf sich selbst, sondern der offene Blick in alle Richtungen: "Wir wollen niemanden ausgrenzen, sondern möglichst viele unterschiedliche Menschen mit einzubeziehen."

Nach der Schule eine halbe Stunde toben: Vienna (7, li) und Róża (6) zeigen, was sie können.

Auf dem Schulhof der Grundschule unterm Heiligenberg haben zehn Kinder ihre Schulranzen abgestellt und rennen auf die Spielgeräte zu. Vienna (7) und Róża (6) hängen kopfüber an den Reckstangen, ein Erstklässler rast barfuß in der Herbstsonne hin und her. "Die Kinder haben nach dem Schultag nur den Wunsch, sich auszutoben", sagt Christina Kötter, die auf 400-Euro-Basis im Wechsel mit einer Sozialarbeiterin und zusammen mit Ehrenamtlichen die Kinder betreut. Gemeinsam gehen sie vom Schulhof zum Gemeindehaus, wo Hähnchenschnitzel mit Reis in einer Warmhaltebox warten. "Nach dem Essen müssen alle Kinder Hausaufgaben machen", sagt Christina Kötter mit versuchter Strenge. Melina Nölling (9) kuschelt sich an sie, "Kannst du mir ein bisschen helfen? Ich hab so viel auf!" Na klar – Hilfe gibt es, ganz individuell in Absprache mit den Lehrern. "Wir sind froh, dass sich die Gemeinde als Trägerin angeboten hat", sagt Schulleiterin Karin Gaschler, "alleine hätten wir das nicht stemmen können." Bis 15.30 Uhr bleiben die Kinder in der Übermittagbetreuung und dürfen spielen, "einfach Kind sein", sagt Christina Kötter. "Da ist nicht der Zwang: Du musst jetzt aber unbedingt hier noch Blockflöte lernen." Heute kommt Pfarrersohn Malte zum Fußballspielen rüber.

Zu Beginn waren zwölf Kinder in der Übermittagbetreuung, jetzt – im vierten Jahr – sind 18 angemeldet. Offenbar trauen Eltern der Kirchengemeinde und sich selbst etwas zu: Es werden wieder mehr Kinder geboren, die Zahl der jährlichen Taufen in der Lukasgemeinde hat sich innerhalb der vergangenen zehn Jahre verdreifacht. "Familien haben offensichtlich den Eindruck, dass man hier vielleicht sogar das dritte Kind schaffen kann", so erklärt sich Ralf Kötter das Wachstum. Das Gemeindehaus neben der Kirche ist mittlerweile zu klein geworden, am Jugendraum wird demnächst mit EU-Fördermitteln angebaut, auch eine kleine Turnhalle kommt dazu.

Über all dem Planen und Organisieren hat die Lukasgemeinde ein nicht minder wichtiges Thema des Lukasevangeliums fast vergessen: das Feiern. Gemeinsam am Tisch sitzen, essen und trinken, das Zusammensein unterschiedlicher Menschen genießen. Zum Erntedankfest wird es nachgeholt: Dann kommt die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, um mit den Menschen aus den Wittgensteiner Dörfern einen Gottesdienst zu feiern. Einen Erntedankgottesdienst für die guten Früchte, die hier in "Lukas" wachsen – seit die Kirche sich um die Menschen kümmert.