Jung, aber hilfsbedürftig: Im besten Alter ins Pflegeheim

Foto: epd-bild/Jochen Guenther
Jung, aber hilfsbedürftig: Im besten Alter ins Pflegeheim
Von der Rente sind sie weit entfernt, doch ein selbständiges Leben ist nicht mehr möglich: Die Zahl der Pflegebedürftigen im mittleren Alter steigt kontinuierlich. Eine Ursache ist der medizinische Fortschritt.
22.10.2014
epd
Nils Sandrisser

Ein leises Zischen begleitet Michael Löw überall hin. Ohne einen dünnen Sauerstoffschlauch an der Nase würde es dem Mittfünfziger schlechtgehen. "Funktionell bin ich ja noch auf dem Damm, nur die Luft ist weg", sagt er und lacht dabei. Seine Augen lachen nicht mit.

Das Kortheuer-Haus des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) liegt in der Hügellandschaft des Taunus, am Rand des Städtchens Usingen. Ein neues Haus, es steht noch keine zwei Jahre. Der Rasen davor ist wie mit der Nagelschere geschnitten, knorrige Bäume recken sich gen Himmel. Weißhaarige Bewohner des Heims sitzen im Freien, gehen an Rollatoren.

Nicht jeder, der hier lebt, ist alt. Nur pflegebedürftig sind sie alle. Im Kortheuer-Haus wohnen neben der üblichen Klientel eines Seniorenheims ehemalige Alkoholabhängige, Menschen mit psychischen Erkrankungen oder bleibenden Schäden nach einem Schlaganfall. Das Rentenalter haben sie noch nicht erreicht - haben aber einen Pflegebedarf wie ein 80-Jähriger.

Statt pflegebedürftig zu werden, sind früher mehr Menschen gestorben

Zahlen des Statistischen Bundesamts belegen: Von 2001 bis 2011 stieg die Zahl der Pflegebedürftigen unter 65 Jahren um mehr als zehn Prozent. Die Zahl der Menschen in Pflegeheimen in dieser Altersgruppe nahm im gleichen Zeitraum sogar um 20 Prozent zu.

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Die Massenverelendung der Junkies der offenen Drogenszene ist Vergangenheit, Psychiatriepatienten sind ambulant besser betreut als noch vor zwei Jahrzehnten, für Wohnungslose gibt es mehr Angebote. Früher sind viele dieser Menschen gestorben, ehe sie in ein Alter kamen, in dem sie pflegebedürftig wurden.

Michael Löw hat mehr schlecht als recht gelebt, als er noch allein wohnte. "37 Stufen bis zu meiner Dachwohnung", erinnert er sich. Irgendwann ging es nicht mehr. Löw leidet an der COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease), seine Lunge verliert nach und nach ihre Funktion. "Die Raucherei macht das", sagt er. Den Haushalt führen oder einkaufen gehen hat Löw zum Schluss nicht mehr geschafft.

"Es gab die Anfrage eines Angehörigen, ob wir einen 54-jährigen Mann aufnehmen könnten", erinnert sich Pflegedienstleiterin Irina Adolph an den ersten jüngeren Pflegebedürftigen. Durch Mundpropaganda seien es mehr geworden. Derzeit leben neun junge Pflegebedürftige in dem Usinger Heim, sieben davon Männer.

Das Kortheuer-Haus stellt sich auf den veränderten Bedarf ein. Eine spezielle Wohngruppe mit 16 Einzelzimmern entsteht derzeit. Diese Altersgruppe benötigt ein anderes Angebot als die herkömmliche Pflegeheim-Klientel. Mit Singabenden oder Sitztanz kann sie wenig anfangen. Hier treffen sie sich in einem besonderen Zimmer zu Videoabenden, schauen Fußball, hören Musik. Das Heim sucht gerade nach einem Kickertisch.

"Hatte nichts mehr vom Leben"

Für die besonderen Bedürfnisse braucht das Personal besondere Kenntnisse. Das Kortheuer-Haus arbeitet mit der Vitos-Klinik in Friedrichsdorf-Köppern zusammen. Bei Bedarf bekommen die Altenpfleger eine psychiatrische Schulung.

Gertrude Brohms (l.) und Michael Loew im Pflegeheim Kortheuer-Haus des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM) im hessischen Usingen.

Nicht alle Bedürfnisse lassen sich aber so ohne weiteres erfüllen. Das Bedürfnis nach Sex etwa. Abhilfe könnte hier dann etwa eine professionelle Hilfe durch Prostituierte schaffen. Einige Bewohner hätten nach wie vor Kontakt nach außen, sagt Pflegedienstleiterin Adolph, niemand hindere sie, nach Sexualpartnern zu suchen.

Heimleiterin Cornelia Franke verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt: "Das Wesentliche ist das Gefühl, gebraucht zu werden." Wer mit Mitte 50 in einem Heim lebt, hat noch 20 Jahre vor sich - aber oft keine Perspektive für diese Zeit. Wer kann, wird deshalb in den Betrieb des Heims eingebunden. "Einer der Bewohner geht immer unserem Haustechniker zur Hand, eine psychisch kranke Bewohnerin, die vorher Physiotherapeutin war, unterstützt andere Bewohner."

Ein angepasstes Leben hat Löw nicht geführt, davon zeugen seine Tätowierungen - eine Träne im Augenwinkel, der Kopf einer Raubkatze auf dem Unterarm. "Ich habe schnell gelebt", sagt er, "es war schlimm für mich, so abgebremst zu werden." Hier im Kortheuer-Haus kommt er aber besser zurecht als in seiner alten Wohnung. "Dafür, dass ich hier sein muss, fühle ich mich wohl", sagt er und lacht. "Vorher hatte ich ja nichts mehr vom Leben."