Auge um Auge, Schaf um Schaf

The Coup
Iman Rezai und Rouven Materne vor ihrem Kunstprojekt "Die Guillotine".
Auge um Auge, Schaf um Schaf
Zwei Berliner Künstler lassen im Internet darüber abstimmen, ob sie ein Schaf hinrichten sollen. Und werden dafür bedroht und beschimpft.
11.05.2012
evangelisch.de
Lilith Becker

Im Sekundentakt fällt das Beil immer wieder herunter. "Ratsch – Bumm – Ratsch – Bumm – Ratsch – Bumm" hallt es in dem mit Planen bedeckten Raum, zwei Minuten und 38 Sekunden lang. Aber so lange möchte man gar nicht zusehen. Hinter der Guillotine steht ein Mann gebückt, im weißen Overall und umklammert etwas schwarzes. Ein anderer Mann steht vor der Guillotine und löst das Fallbeil.

Dass das Schwarze ein Schaf sein muss, ergibt sich aus dem Text neben dem Video: "Soll dieses Schaf getötet werden?" Der Besucher der Seite darf abstimmen: "Ja" oder "Nein"? Zwei Meisterschüler der Universität der Künste in Berlin, Iman Rezai und Rouven Materne, haben die Guillotine gebaut und sie mit Neonfarben angemalt. Zusammen mit der Abstimmung im Internet nennen sie das Ganze "Experiment".

Auf der Internetseite selber gibt es keine Erklärung zu ihrem Experiment. Auf ihrer Facebook-Seite schreiben sie, "Sie ist bunt aber gefährlich. Die kompakteste Reflexion der Gesellschaft." Wer keine Lust oder Zeit hat zu hinterfragen, was das Ganze soll, reagiert mit Unverständnis und Ekel auf die Aktion der beiden Künstler.

Sie könnten Norbert wirklich köpfen

Auf ihrer Facebook-Seite werden die beiden zur Zielscheibe maßloser Wut: "Ihr armen Kranken" und "Ich hoffe, ihr Freaks bekommt eure Strafe" sind noch die harmlosen Beschimpfungen. Falls sie das Schaf töten sollten, versprechen andere Kommentatoren, würden sie die Künstler umbringen.

Andere wiederum ergreifen Partei für das Experiment und schreiben: "Menschen und Tiere werden jeden Tag auf der Welt getötet, auch für deinen bequemen Wohlstand und du stimmst täglich zu. Was kümmert dich also dieses eine Schaf?"

Das Experiment lebt davon, dass sich keiner sicher sein kann: Ist die Gefahr für das Leben des Schafs nun real oder ist sie eine Metapher? Real ist auf jeden Fall die Gefahr, die von der bunten Guillotine ausgeht. Sie ist über drei Meter hoch und die scharfe Klinge wiegt 40 Kilogramm. Mit einem Gewicht von über einer Tonne schlägt das Beil auf. Falls die Künstler das Schaf, das sie Norbert genannt haben, wirklich köpfen wollten, sie könnten es.

"Unsere Demokratie sieht bunt und lieb aus"

Am 17. Mai endet die Abstimmung über Norberts Leben im Internet. Laut dieser haben sich bisher 1,3 Millionen Menschen für Norberts Hinrichtung ausgesprochen und 1,6 Millionen dagegen. Eine weitere beeindruckende Zahl melden die Agentur der beiden Künstler und einige internationale Medien: ein anonymer, amerikanischer Sammler soll die Guillotine Anfang Mai für 1,75 Millionen Euro gekauft haben.

Was steht nun hinter diesem Experiment? Sie haben ein Video auf Youtube gestellt, das zeigt, wie die Guillotine entsteht. Dort erzählen sie ein bisschen wer sie sind und was sie tun. Rouven Materne sagt, seine Kunst sei roh und gewalttätig, die von Iman Rezai bunt.

Beim Bau der Guillotine hätten sie gezweifelt, sich gehasst, erzählen sie. Doch die bunte Farbe aufzutragen sei wie eine Therapie gewesen. "Klar ist es eine Waffe", sagt Iman Rezai, "aber es gibt tausende Unternehmen die solche Waffen produzieren." Und weiter: "Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie sieht bunt und lieb aus. Wir gehen wählen, wir gehen auf die Straße und sagen: Wir wollen keinen Krieg. Aber es gibt immer einen Krieg. Natürlich. Ohne Krieg läuft auch nichts." Die beiden potenziellen Schaftöter sind also eigentlich demokratische Pazifisten?

Die Illusion und der Glaube

Die Wahl über Norberts Leben belasse den Teilnehmer in der vermeintlichen Rolle des Demokraten, schreiben die Beiden in einer Stellungnahme. Da jeder so oft wählen könne wie er wolle, könne der Einzelne durch sein Engagement den Wahlverlauf direkt beeinflussen. Die Künstler selber würden dabei zum Instrument der Demokratie, da sie sich dem Willen der Mehrheit beugen wollen. Vermeintlich.

Das Wort "vermeintlich", dass die Künstler gebrauchen, bedeutet, dass Rouven Materne und Iman Rezai nicht vorhaben, sich letztlich tatsächlich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Aber die Illusion und der Glauben daran bleibt. Die Beschimpfungen auf Facebook zeigen das eindrucksvoll. Die Bilder und Videos im Internet, eine reale Abstimmung, Millionen Menschen, die sich beteiligen – das alles macht ihr Experiment real, täuschend echt.

Und so scheint das Experiment auch aufzugehen: die Menschen lassen sich wie Schafe zum Schafott führen und merken es nicht.