Muslim auf dem Land: Fremd in allen Welten

Fahnen vor der Moschee in Altena
Maike Freund
Fahnen vor der Moschee in Altena.
Muslim auf dem Land: Fremd in allen Welten
Wie lebt es sich eigentlich in Deutschland als Muslim einer ländlichen Region? Oder gibt es dort gar keine Anhänger des Islams? Und wenn doch: Wie ist es dann mit dem Miteinander bestellt? Das hat sich die Redaktion von evangelisch.de gefragt und einen Ausflug ins nordrhein-westfälische Altena im Sauerland gemacht.
17.04.2012
evangelisch.de

Der Zug hält. Niemand steigt aus. Der Bahnsteig: neben einer Schnellstraße. Am Bahnhofsgebäude klebt ein Schild: "Zu vermieten". Daneben: eine Dönerbude, geschlossen. Der Himmel hängt tief zwischen den Bergen. Kein Fußgänger ist unterwegs, niemand, der den Weg zum türkisch-islamischen Verein kennen könnte. Hoch oben auf einem Berg, trutzig, massiv, grau: die Burg, das Wahrzeichen der kleinen Stadt Altena.

###mehr-artikel###Viertel nach neun. Die Fußgängerzone ist leer. Blinde Schaufenster rechts und links der schmalen Gasse. Eine Frau mit Kopftuch biegt auf die Straße ein, hinter sich zieht sie ein Einkaufswägelchen. Der Weg zum türkisch-islamischen Verein? Sie lächelt nur und zuckt die Schultern. Vielleicht hat sie die Frage nicht verstanden.

19.226 Menschen leben in der Kleinstadt Altena im Märkischen Kreis im Sauerland, etwa 50 Kilometer östlich von Dortmund. Etwa 500 Muslime gibt es nach Angaben des türkisch-muslimischen Vereins in Altena. Genauer lässt sich das nicht benennen, denn in der Statistik der Stadt werden neben Protestanten (7.700) und Katholiken (4.300) zwar Russisch-Orthodoxe (ein Mitglied) und sogar die Zeugen Jehovas (ein Mitglied) aufgeführt. Wie viele Muslime im Ort leben, wird jedoch nicht aufgeschlüsselt. Sie werden in der Kategorie "Ohne Angaben" geführt, gemeinsam mit den Konfessionslosen.

Hier gebe es nicht solche Probleme mit den Muslimen

Ein Werk von Thyssen Krupp gibt es hier am Ort, ansonsten ist die Gegend um Altena ländlich geprägt. Die Stadt setzt auf Touristen – und die soll die Natur des Sauerlands und vor allem die Burg anziehen. Im Mittelalter war sie Wohnsitz der Grafen von der Mark – mächtige Regenten im Römischen Reich. Heute ist in der Burg ein Museum eingerichtet, unter anderem für die älteste Jugendherberge der Welt – und egal von welcher Stelle des kleinen Ortes: die Burg thront über allem.

Trügerische Idylle: Die Innenstadt von Altena ist wie ausgestorben.Fotos: Maike Freund

Die Burg ist es auch, auf der die Hoffnung des SPD-Politikers und zweiten stellvertretenden Bürgermeister der Stadt, Reiner Kemmerling, ruht. Heute ist Wochenmarkt in der kleine Fußgängerzone. Und jetzt, gegen Mittag, ist auch ein bisschen mehr los als sonst. Deshalb steht der Politiker hier und macht Werbung für die NRW-Wahl.

Er kennt die Schreckgespenster des Ortes: Überalterung und das Schrumpfen der Einwohnerzahl. Noch leben hier rund 19.000 Menschen, in zehn Jahren, schätzt er, werden es nur noch 15.000 sein. Die Folge: leerstehende Ladenflächen, eine verwaister Ort. Deshalb gebe es das Projekt 2015, erzählt Kemmerling. Seine Stimme nimmt an Fahrt auf. "Die Stadt soll bis dahin attraktiver werden", sagt er. Im Mittelpunkt des Projekts – mal wieder – die Burg. Sie soll mehr Touristen anziehen und das soll ein Erlebnisaufzug möglich machen.

 

Weiß sie nicht weiter, ersetzen Handbewegungen ihre Worte

Und die Muslime? Ob es Probleme gebe? "Nein", sagt Kemmerling. Hier auf dem Land gebe es nicht solche Probleme mit den Muslimen wie in der Stadt, sagt er. Solche Probleme? "Hier gibt es keine Ghettoisierung", sagt er und das Miteinander sei sehr gut. "Beide Seiten bemühen sich um Offenheit." Altenas Problem sei der Leerstand der Ladenlokale.

Das Sauerland ist eine ländliche Region in Nordrhein-Westfalen und grenzt an das Ruhrgebiet, das Bergische Land und Siegen-Wittgenstein. Zum Sauerland gehören der Hochsauerlandkreis, der Märkische Kreis und der Kreis Olpe mit insgesamt rund 840.000 Einwohnern.

Am Ende der Straße, am Busbahnhof, gibt es einen türkischen Gemüseladen – den einzigen im Ort. "Kardes Market" klebt in roten Lettern auf der Schaufensterscheibe. Drinnen steht Hilcmet Bektas und hält mit ihrer Nachbarin ein Schwätzchen – auf Türkisch. "Ja und Nein", antwortet sie auf die Frage, ob sie gerne in Altena lebe. "Ja", denn alle ihre Freunde würden hier wohnen, der Ort sei überschaubar, sie brauche sich keine Sorgen um ihre Kinder zu machen. Und "Nein", denn ihre Familie – außer ihrem Bruder – lebe in der Türkei und los sei hier auch nicht viel.

"Das Leben hier ist teuer", sagt sie. Nur ihr Mann arbeite, sie selbst habe keinen Job, da reiche das Geld vorne und hinten nicht für sie und die fünf Kinder. Beim Amt habe man ihr gesagt, sie solle einen Sprachkurs machen. Sie weiß, dass sie schlecht Deutsch spricht. Wenn sie nicht weiter weiß, ersetzen Handbewegungen ihre Worte. Und manchmal muss sie wiederholen, was sie erzählt, auch mehrmals.

"Der türkische Verein? Das gelbe Haus. Das kennt hier jeder"

Mit 14 Jahren, erzählt sie, sei sie vom Schwarzen Meer mit ihren Eltern nach Altena gekommen. In die Schule sei sie hier nie gegangen, Zuhause wurde damals und würde heute noch immer Türkisch gesprochen – "da ist es schwer mit der Sprache", sagt sie. Aber noch mal zur Schule gehen mit ihren 48 Jahren, das wolle sie nicht. "Dafür bin ich zu alt."

Der einzige Gemüseladen in Altena.

Ob sie schon mal jemand komisch wegen ihres Kopftuchs geschaut hätte. "Nein, nein", sagt sie und macht mit den Händen eine Bewegung, als schiebe sie die Frage von sich weg. "Im Gegenteil", sagt sie. Als sie einmal ohne Kopftuch unterwegs gewesen sei, hätten ihre Freunde gesagt, du spinnst. Die hätten sie ohne gar nicht mehr erkannt. Und wegen ihrer Religion? Sie schüttelt den Kopf. Das liege daran, dass sie immer freundlich auf die Menschen zugehe. "Jeder kennt in dieser Straße Frau Bektas und weiß, dass sie ein gutes Herz hat." Da sei die Religion egal.

"Der türkische Verein? Ich würd' Sie hinbringen, junge Frau, aber ich hab leider keine Zeit. Gehen Sie hier gerade aus, dann über die Brücke, es ist das gelbe Haus. Sonst fragen Sie noch ma. Das kennt hier jeder, woll", sagt ein älterer Mann und deutet Richtung Bahnhof.

 

"Ich bin hier fremd und bin dort fremd"

Halb zwei. Die Tür des türkisch-islamischen Vereins ist geöffnet, denn es ist Zeit zum Gebet. Eine Treppe führt nach oben, auf den Absätzen: Schuhe. Zu sehen ist niemand. Dann kommt ein Mann, schmal, klein, mit langem, dunklem Bart und bedecktem Haar die Treppe herauf. Ja, er sei Muslim und wohne hier in Altena, aber er sei kein Türke, sagt er. "Ich komme aus Sri Lanka." Zum beten komme er trotzdem in die Moschee. Dann streift er seine Schuhe ab und geht nach oben.

Die Moschee in Altena.

Einen Moment hält der Imam inne: Dann öffnet er den Mund und sein Gesang verdrängt alles: Den Lärm von der Straße, die Kälte, den Regen. Mit geschlossenen Augen dreht sich der Imam Richtung Mekka und seine Stimme lobpreist und verlockt zugleich. Etwa zehn Männer sind in den Gebetsraum mit den blau-türkis gekachelten Wänden und dem roten Teppich, in dem die Zehen versinken, gekommen. Frauen sind keine dort. Die Männer ziehen ihre Kopfbedeckung an und stellen sich auf.

Wie es ist, als Muslim, als Türke in Altena zu leben? "Ich bin hier fremd und ich bin dort fremd, ein Gast, egal in welchem Land", erzählt einer der Moscheebesucher. Sei er in der Türkei, würden die Türken dort sagen: Dort kommt der aus Deutschland. Hier sei er der Türke. Nicht immer, aber auch nicht selten könne er die Blicke der Menschen auf hier sich spüren. Die Blicke, die sagten: Dort kommt der Ausländer. Seiner Religion hingegen würde viel Interesse von allen Einwohnern Altenars entgegengebracht.

"Eingewanderte sind oft in ihren Gemeinschaften isoliert"

Zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime leben in Deutschland. 98 Prozent von ihnen leben in den alten Bundesländern einschließlich Ostberlin. Und: Die meisten Muslime - zwischen 1,3 Millionen und 1,5 Millionen, das heißt: jeder Dritte - leben in NRW. Wie viele Muslime jedoch auf dem Land und in der Stadt leben, darüber gibt es keine Statistiken oder Studien - nicht beim Bund, nicht beim Land, nicht bei muslimischen Vereinen oder Forschungseinrichtungen.

Der Blick von der Burg in Altena.

Die Theologin Anja Schwier untersuchte im Auftrag der Evangelischen Kirche in Hessen Nassau (EKHN) vier Jahre lang das interkulturelle und interreligiöse Zusammenleben auf dem Dorf und in der Kleinstadt. Die Ergebnisse stellt sie im Buch "Der Fremde auf dem Land" und auch noch einmal 2002 im Buch "Islam in europäischen Dörfern" vor. "In Dörfern gibt es einerseits aufgrund der Vielzahl von Vereinen und sozialen Kontakten ein dichtes Netz von Beziehungen, in dem Eingewanderte leicht auffallen und oft nach Jahrzehenten noch als Fremde wahrgenommen werden", heißt es in der Einleitung. "Andererseits leben Eingewanderte in Dörfern oft in ihren Gemeinschaften isoliert."

Etwas Ähnliches gilt auch noch zehn Jahre später für Altena: Wer den Berg Richtung Burg hinaufsteigt, findet dort, auf halbem Weg gleich neben dem Drahtmuseum, Marion van den Boogaard. Sie ist Sozialarbeiterin beim Internationalen Bund (IB) Märkischer Kreis und arbeitet seit 22 Jahren im Jugendmigrationsdienst. Das Büro ist im Haus des Übergangswohnheims für Asylbewerber untergebracht. Van den Boogaard kennt also die Probleme der Asylbewerber und die der Migranten, die sie auch betreut. Gleichzeitig lebt sie seit 25 Jahren in Altena, sie weiß also auch, wie die Bürger hier ticken. Und sie ist gebürtige Niederländerin, hat also selbst einen Migrationshintergrund; sie weiß, wovon sie spricht.

"Es ist nicht so einfach mit der Integration – auf beiden Seiten"

Van den Boogaard überlegt ganz genau, bevor sie antwortet. Ihr zierlicher Körper ist gespannt, die Hände liegen im Schoss, der Blick ist auf den Boden gerichtet: Sie will nicht so richtig raus mit der Sprache. Was sie dann sagt, ist wohl überlegt und trotzdem deutlich: "Es ist nicht so einfach mit der Integration – auf beiden Seiten."

Die Ausländerquote in Altena liegt bei neun Prozent. (Zum Vergleich. Deutschlandweit liegt der Anteil bei etwa 10 Prozent). Der größte Anteil der Ausländer in der kleinen Stadt sind Türken (460), gefolgt von Griechen (361) und Italienern (180). Es gibt auch Einwohner aus Syrien, Sri Lanka, Serbien, Marokko, Spanien, Polen Bosnien-Herzegowina und Großbritannien.

Sie erzählt von Parallelwelten: Von den Asylsuchenden, die von den Blicken berichten, die sie verfolgen, wenn sie durch das Dorf gehen, die sie als anders, als fremd, als unerwünscht stigmatisieren, egal wohin sie in Altena kommen. Deshalb würden sie so oft wie möglich den Zug Richtung Hagen oder besser noch Dortmund nehmen; den Zug in die Stadt, in eine andere Welt, in der sie nicht die Fremden sind, in der sie der Isoliertheit entfliehen können. Und dieses Gefühl des Fremdseins ändere sich auch nicht mit erteilter Aufenthaltsgenehmigung.

Es sei eine Besonderheit der ländlichen Umgebung. "Jeder kennt jeden und alle werden genau beobachtet." "Zum Glück ist es kein Ausländer, der hier einzieht", hörte sie die Nachbarn sagen, als sie die Fenster in der neuen Wohnung ihrer Tochter putzte. Man spreche es nicht laut aus, die rassistischen Äußerungen seien versteckt, unterschwellig, vielleicht auch nicht immer so gemeint, aber sie seien da. Woher die Probleme kommen? "Altena ist eine sterbende Stadt", sagt van den Boogaard. "Die Jungen ziehen weg, die Alten bleiben – und somit auch die eher konservative Einstellung."

"Ab einem gewissen Punkt muss man sich dazu entscheiden"

Und dann gibt es noch die andere Seite: Die rassistischen Bemerkungen, die die Asylbewerber über Deutsche machten. Und der Drang – vor allem der Türken – ihre eigene Sprache beizubehalten. Als Sozialarbeiterin predige sie immer wieder, wie wichtig es sei, die deutsche Sprache zu lernen. Der erste Wunsch sei aber immer der nach türkischsprachigem Unterricht für die Kinder. "Ab einem gewissen Punkt muss man sich dazu entscheiden, hier zu leben", sagt van den Boogaard. "Oder will man auch noch in der achten, neunten oder zehnten Generation die alte Sprache als wichtiger einstufen, obwohl man längst hier Zuhause ist?"

Die Moschee in Altena.

Und Probleme mit dem Islam? Die gebe es eher nicht, sagt van den Boogaard. Als die türkisch-islamische Gemeinde jedoch auf der Suche nach einem neuen Gebäude für ihr Gotteshaus war, da seien viele Bürger hinter vorbehaltender Hand der Meinung gewesen, dass die leerstehenden Gebäude der christlichen Kirchen, für die man dringend einen neuen Verwendungszeck suchte, dafür ganz und gar nicht in Frage kämen.

Halb fünf: Er verlässt das Asylantenheim Asylbewerberheim, vielleicht ist er auf dem Weg Richtung Bahnhof, zum Zug, der ihn in die Stadt bringen wird. Er geht die schmale Treppe hinunter, vorbei an kleinen Gärten und Häusern, deren Farbe abblättert. Zwei Mädchen kommen ihm entgegen. Sie kichern und tuscheln und stecken die Köpfe zusammen. Als die zwei an ihm vorbei gehen, werfen sie ihm Blicke zu, kokett, auffordernd, flirtend. Dann kichern sie noch lauter. Er fällt auf in dieser Gegend: jung, männlich und schwarz. Die Mädchen sind schon längst vorbei, da dreht er sich noch einmal um, ein Lächeln auf den Lippen.