Mehrgenerationen-Wohnen: Nichts für Blauäugige

Mehrere Generationen unter einem Dach
NYT/Redux/laif/Kirk Irwin
Ob als klassische WG oder in unabhängigen Wohneinheiten: Für das Zusammenleben mit mehreren Generationen interessieren sich immer mehr Menschen.
Mehrgenerationen-Wohnen: Nichts für Blauäugige
Im Alter gemeinsam statt einsam zu leben, ist kein Zauberwort, sondern vor allem eine Herausforderung
Es klingt verlockend: die letzte Lebensphase nicht allein oder im Heim, sondern in einer Hausgemeinschaft mit Menschen aller Altersstufen zu verbringen. Das will freilich gut überlegt sein.

Das Mehrgenerationen-Wohnprojekt ist in aller Munde – als neue Wohnform für Paare und Alleinstehende der Gruppe Ü 60 sowie für Familien mit Kindern. Sie alle eint der Wunsch, in guter, lebendiger Nachbarschaft zu leben, sich im Alltag zu unterstützen und Gemeinschaftsflächen für ein kommunikatives Zusammenwohnen drinnen oder draußen zu schaffen und zu teilen.

Der Wunsch der jungen Alten, die ihren Lebensabend nicht einsam im "empty nest", sondern kommunikativ, mit umfassender kultureller, sozialer und gesundheitlicher Infrastruktur verbringen wollen, hat den Boom der neuen Wohnform ausgelöst. Er hat bewirkt, dass sich vielerorts Initiativgruppen zusammentun, auf Grundstückssuche in den attraktiven Innenstadtvierteln machen und gemeinsam bauen wollen. Andere Gruppen halten nach einem Vermieter oder Investor Ausschau, der bereit ist, ihre Wünsche nach gemeinschaftlichem Wohnen passgenau zu erfüllen.

Wer hat Erfahrung mit solch einem Großprojekt?

Doch gemeinschaftliches Denken, Handeln und Entscheiden in der Gruppe hat selten jemand in der Schule gelernt. Und im wahren Leben meist auch nicht. In der Regel hat man Jahrzehnte in der Kleinfamilie verbracht oder war als Single nur für sich allein verantwortlich; im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung - auf jeden Fall ohne soziale Kontrolle oder gar Einmischung von Fremden.

Jetzt soll man plötzlich offen und zugewandt sein, auf andere Leute zugehen. Denn die Potenziale der neuen Gemeinschafts-Wohnkultur liegen schließlich auf der Hand: Jung hilft Alt und trägt den Sprudelkasten hoch. Alt sittet die Kinder, liest vor, strickt, kocht Lieblingsgerichte, spielt Fußball und ist vor allem gelassen und ganz entspannt, so ohne den beruflichen Stress.

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Gelassenheit ist allerdings schon bei vielen anstehenden Einigungsprozessen während der gesamten Projektentwicklung in der Baugruppe angesagt: So gibt es nun mal in jedem Projekt nur eine bestimmte Anzahl von Wohnungen mit großzügigen Dachterrassen. Wer soll sie bekommen? Wer bekommt die Wohnungen mit der Ost-West-Ausrichtung – wer muss in den Norden? Entscheidet die Gruppe über den Preis, nach Bedürftigkeit, Dauer der Zugehörigkeit zur Wohnprojektinitiative?

Entscheidet gar das Los? Oder geht es wie so häufig im Leben danach, wer sich besser durchsetzen und die besseren Argumente formulieren kann. Oder wer gleich mit dem K.o.-Kriterium droht: "Dann steig ich eben aus!" Berufliche Vorerfahrungen und Kompetenzen können in der Projektentwicklung hilfreich sein. Aber ebenso auch hinderlich, wenn etwa basisdemokratische Entscheidungsstrukturen für Einzelne völlig ungewohnt sind nach dem Motto: Einmal Chefarzt – immer Chefarzt!

Es gilt also vieles zu regeln, Strukturen aufzubauen, Beschlussmodalitäten zu vereinbaren, mit denen Alle leben können. Der Traum vom harmonischen Miteinander rund um den reich gedeckten Frühstückstisch im blühenden Gemeinschaftsgarten mag dann für die Eine und den Anderen erst einmal etwas in den Hintergrund treten.

Alternative: zur Miete wohnen

Oder man entscheidet sich lieber von vorneherein für ein gemeinschaftliches Wohngruppenprojekt zur Miete und begibt sich auf die Suche nach einem sozial orientierten Bauherren, einem Investor, dessen Herz für diese neue zukunftsträchtige Wohnform schlägt. Das ist sicherlich eine gute Idee, wenn man sich als wohnungswirtschaftlicher Laie nicht ein Baugruppenvorhaben in einer Größenordnung von schnell mal fünf Millionen Euro zutraut.

Doch obwohl sich heute schon zunehmend Investoren für die Wohnform des Mehrgenerationen-Wohnens interessieren, ist es immer noch die Suche nach der berühmte Stecknadel im Heuhaufen, wenn in der eigenen Stadt und im präferierten Stadtteil ein Investor mit einem passenden Grundstück gefunden werden soll. Viele Initiativgruppen zerschlagen sich bei dieser aufwendigen Recherche oder müssen sich immer wieder neu finden – was den Realisierungshorizont nicht gerade verkürzt.

Auch bei einem gelungenen Wohngruppenprojekt zur Miete sollte man kompromissbereit sein und sich mit Ansicht anfreunden, dass ein zur Hälfte gefülltes Wasserglas grundsätzlich halbvoll ist. Die alltäglichen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten sichern den BewohnerInnen immer wieder einen lebendigen progressiven Alltag – ähnlich wie in der Kleinfamilie, wo es ja auch immer wieder darum geht, Empfindlichkeiten zu berücksichtigen, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten zu vermeiden und Gefühle nicht zu verletzten.

Die klassischen Problemfelder lassen grüßen

Das Mehrgenerationenprojekt als soziales Biotop braucht Pflege, Strukturen, Regeln und Verbindlichkeiten. Die großen Themen des Zusammenwohnens, namentlich Lautstärke, Müll und Kindererziehung, machen auch vor diesem Idyll nicht halt.

Am besten klappt es, wenn man seine Mitmenschen mag: Kinderlärm kann positiv bewertet werden, wenn man eine Beziehung zu dem Kind hat. Kritik an dem nicht ordentlich geputzten und so hinterlassenen Gemeinschaftsraum kann man von der Oma, die immer so herrlichen Kuchen zum Kindergeburtstag backt, eher wegstecken.

Aber auch in einem Mehrgenerationenprojekt muss man nicht mit jedem gleich gut können. Jeder Mensch mag den Einen mehr, den Anderen weniger. Unterm Strich reicht es, einander zu akzeptieren und zu respektieren. Und wenn man nicht zu hohe sozialromantische Erwartungen hat und sich über (fast) alles freuen kann, was über den üblichen engen Rahmen in der Kleinfamilie oder gar über ein einsames Leben ohne Familie und Freunde hinausgeht, dann lohnt es den Aufwand allemal.