Die hebräische Sprache: Von der Synagoge auf die Straße

Foto: VISUM/Pascal Deloche
Die hebräische Sprache: Von der Synagoge auf die Straße
Dass Israelis eines Tages auf Hebräisch streiten und schimpfen, Wahlkämpfe organisieren, Zeitung lesen, nach der Uhrzeit fragen oder ihren Kaffee bestellen würden, war für die frühen Zionisten keineswegs klar. Denn zum Gedanken vom jüdischen Staat gehörte nicht unbedingt die Idee, die biblische Sprache zu sprechen.

Theodor Herzl stellte sich vor, Deutsch würde die Sprache eines künftigen jüdischen Landes sein. In seinem Werk "Der Judenstaat" schrieb er: "Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen? Wir werden auch drüben bleiben, was wir jetzt sind, so wie wir nie aufhören werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt worden sind, mit Wehmut zu lieben."

Als wichtigster Vorkämpfer für das moderne Hebräisch gilt Elieser Ben-Jehuda, der ursprünglich Elieser Jizchak Perlmann hieß: Der Journalist und Autor aus Litauen schuf viele neuhebräische Worte und verfasste das bis heute wichtigste hebräische Wörterbuch. Von jüdischen Schulen aus sollte die Sprache verbreitet werden, schrieb Ben-Jehuda in seiner Zeitschrift HaZwi, der Hirsch: "Die hebräische Sprache wird von der Synagoge zum Lehrhaus und vom Lehrhaus zur Schule gehen, und von der Schule wird sie in die Häuser kommen (...) und zur lebendigen Sprache werden." Elieser Ben-Jehuda kam 1857 in Litauen auf die Welt und starb vor 90 Jahren in Jerusalem, am 16. Dezember 1922.

Heilige Sprache für den Gottesdienst

Ganz tot war die hebräische Sprache nie: Jüdische Gebete wurden fast immer auf Hebräisch gesprochen. Über viele Jahrhunderte studierten jüdische Männer die Tora, also die Fünf Bücher Mose, im hebräischen Original. Doch im Alltag sprachen sie kein Hebräisch. Denn Hebräisch galt orthodoxen Juden als heilige Sprache, der Gebrauch bei der Arbeit, auf der Straße oder in der Kneipe war für sie frevelhaft.

Elieser Ben-Jehuda. Foto: Wikimedia Commons

Auch die jüdische Aufklärungsbewegung, die Haskala, arbeitete an der Wiederbelebung des Hebräischen. Die Erben von Moses Mendelssohn wirkten bis ins 19. Jahrhundert. Besonders im russischen Reich schrieben sie Literatur auf Hebräisch. So brachte Avraham Mapu im 19. Jahrhundert historische Romane in hebräischer Sprache zu Papier. Der bekannteste von ihnen heißt Ahavat Zion, Zionsliebe, und nennt sich in der deutschen Übersetzung "Thamar".

Vielen allerdings kamen solche Wiederbelebungsversuche künstlich vor. Literatur in einer Sprache, die niemand im Alltag sprach, musste gekünstelt und gedrechselt wirken. Für Elieser Ben-Jehuda war klar: Nur in einem Land, in dem Juden die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, konnte das Hebräische gedeihen. So schrieb er in einem Brief: "Es ist sinnlos zu schreien: 'Lasst uns die hebräische Sprache schätzen, sonst vergehen wir!' Die hebräische Sprache kann nur leben, wenn wir die Nation wiederbeleben und zu ihrem Vaterland zurückkehren. Letztlich ist dies der einzige Weg, unsere fortwährende Erlösung zu erreichen; mit weniger als einer solchen Lösung sind wir verloren, für immer verloren."

"Die Nation kann nur auf ihrem eigenen Boden leben"

Solchen Sätzen ist anzumerken, wie fasziniert Ben-Jehuda vom Erstarken der europäischen Nationalstaaten war. Kurzerhand erklärt er das antike Israel zur Nation. Ebenso fasziniert war er von der Wiedergeburt des antiken Roms im modernen Italien. Auch Israel könne auf diese Weise wieder erstarken, glaubte er. Im Gegensatz zur jüdischen Religion, die überall gedeihen könne, sei die Nation auf das angestammte Land angewiesen. "Die Nation kann nur auf ihrem eigenen Boden leben", schrieb Ben-Jehuda." Nur auf diesem Boden kann sie wiederaufleben und so wunderbare Frucht tragen wie zu vormaligen Zeiten."

Im Jahr 1881 wanderte Elieser Ben-Jehuda nach Palästina ein – ein Schritt, den kaum einer der jüdischen Aufklärer sonst ging. Juden in der Gegend, die heute Israel heißt und damals zum Osmanischen Reich gehörte, sprachen alle möglichen Sprachen: Arabisch, Judenspanisch, Jiddisch, Russisch. Die Verständigung von Juden unterschiedlicher Herkunft war schwierig. Ben-Jehudas Ansicht: Nur wenn Juden eine Sprache sprächen, könnten sie auch ein Volk werden.

Als Lehrer in der jüdischen Schule "Tora weAwoda", Tora und Arbeit, hatte Ben-Jehuda Gelegenheit, solche Ansichten in die Tat umzusetzen. Er hielt seinen Unterricht auf Hebräisch ab und konnte so Kinder unterschiedlicher Herkunft unterrichten. Gleichzeitig erbrachte er den Beweis, dass sich das Hebräische tatsächlich wiederbeleben ließ. So konnte Ben-Jehuda viele andere Lehrer beeindrucken, und sein Beispiel machte Schule. In der Einleitung zu seinem Wörterbuch heißt es: "Wenn eine Sprache, die nicht mehr gesprochen wird und von der nichts übrig geblieben ist außer dem, was sich von unserer Sprache erhalten hat (...), wieder aufleben kann und Umgangssprache eines Einzelnen für alle Bedürfnisse seines Lebens werden kann, so besteht kein Zweifel daran, dass sie Umgangssprache einer Gemeinschaft werden kann."

"Eiscreme", "Zeitung" oder "Uhr" kommen in der Bibel nicht vor

Dass Hebräisch Umgangssprache eines Einzelnen werden kann, wollte Ben-Jehuda anhand seines Sohnes beweisen. Das Kind sollte vollständig auf Hebräisch aufwachsen. Andere Sprachen hielt er von dem Jungen fern. So begann der Junge erst relativ spät zu sprechen – mit vier Jahren. Als Ben-Jehuda eines Tages aus dem Haus war, begann seine Frau, in Gedanken versunken, mit dem Jungen russische Wiegenlieder zu singen. Als Ben-Jehuda vorzeitig nach Hause kam, stürzte er ins Zimmer und schimpfte. Der Sohn Itamar Ben-Avi schrieb darüber später in seiner Autobiographie: "Ich war sehr erschrocken, als ich meinen Vater so zornig und meine Mutter traurig und weinend sah. Meine Stummheit verschwand, und ich begann zu sprechen."

In seiner eigenen Zeitschrift "Ha Zwi", der Hirsch, stellte Ben-Jehuda, seine Wortschöpfungen vor. Denn das moderne Leben machte neue Wörter erforderlich: Wörter wie Eiscreme, Zeitung oder Uhr kommen in der Bibel nicht vor. "Uhr" , schaon, formte Ben-Jehuda aus dem hebräischen Wort für Stunde, schaa. Zeitung, iton, formte er aus dem Wort für "Zeit", et. Die Idee, Zeitung von Zeit abzuleiten, stammt jedoch aus dem Deutschen.

Neben neu erschaffenen Wörtern griff Ben-Jehuda auch Wörter aus der Hebräischen Bibel auf und stellte sie in moderne Zusammenhänge. Das Wort latuss, mit einem Flugzeug fliegen, kommt schon in der Bibel und in der Mischna vor - einem rabbinischen Kommentar, der bis zum dritten Jahrhundert nach der Zeitrechnung entstand. Diese Werke verwenden das Wort "latuss" nicht für den gemeinen Vogelflug, sondern für schnelle Flüge. Das Buch Hiob weiß zu sagen, dass der Adler auf diese Weise zur Beute fliegt, wenn er Hunger hat. Und die Mischna verwendet "latuss" für die Engel, die im Himmel fliegen - sie düsen geradezu. Die Worte "latuss", fliegen, und "matoss", Flugzeug, sind bis heute in der hebräischen Sprache üblich.

Ein Wörterbuch mit 16 Bänden

Ganz ähnlich entstand das Wort für elektrischen Strom, chaschmal. Das Wort bezeichnet in der Bibel die Mitte einer Flamme, also den Punkt, an dem besonders große Hitze herrscht. Viele Wörter im heutigen Hebräisch gehen auf Ben-Jehuda zurück. Nur wenige seiner Wortschöpfungen gerieten in Vergessenheit. So setzte sich seine Idee nicht durch, statt Telefon Fernsprecher zu sagen. Zu Ben-Jehudas wichtigsten Hinterlassenschaften gehört sein 16-bändiges Wörterbuch – bis heute das wesentliche Wörterbuch für die hebräische Sprache.

Die "Akademie für hebräische Sprache" setzt bis heute Ben-Jehudas Arbeit fort. Denn immer wieder kommen neue Gegenstände in den Alltag, die neuer Wörter bedürfen. Computer heißt auf Hebräisch "machschew", Denker. Marketing heißt "schiwuk", und stammt von dem Wort für Markt ab: "schuk" Israelische Kinder nehmen diese Wörter mit der Muttermilch auf, lernen Hebräisch, als hätte es nie andere Möglichkeiten gegeben. Ben-Jehudas Vision von Hebräisch als lebendiger Sprache ist heute eine Selbstverständlichkeit.