Der Entdecker des Zackzack-Phänomens

Foto: Hanna Spengler
Butterbrezeln mit Butter macht die Deutschen in Konferenzen glücklich, das hat der tansanische Pfarrer Emmanuel Kileo während seiner Zeit in Kaufbeuren gelernt.
Der Entdecker des Zackzack-Phänomens
Der tansanische Pfarrer Emmanuel Kileo hält uns Deutschen einen Spiegel vor
"Zackzack"-Gesellschaft nennt Emmanuel Kileo die deutsche Kultur der Pünktlichkeit. Wegen fünf Minuten Verspätung muss man sich in Deutschland nämlich entschuldigen. Überhaupt gibt es einige Dinge, an die sich der Pfarrer aus Tansania erst gewöhnen muss: Zum Beispiel Käsebrote als Hauptgericht zum Dinner.
18.03.2013
Hanna Spengler

Seine erste Mahlzeit in Deutschland, Sauerkraut mit Knödeln, wird Kileo wohl nie vergessen. "Da wurde uns klar, dass wir wirklich in einem anderen Land angekommen sind", so der Pfarrer, der 2007 mit seiner Familie im Rahmen des Austauschprogramms "Mission Eine Welt" der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern nach Deutschland gekommen ist.

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In Deutschland angekommen, erwartete die Kileos am Flughafen zunächst ein traumatisches Erlebnis: "Wir mussten einige Formulare ausfüllen und unsere Staatsangehörigkeit angeben", erinnert sich der Pfarrer. Schockierend war für ihn, dass sein Mutterland Tansania gar nicht erst aufgelistet war, sondern unter den Sammelbegriff "sonstiges Afrika" fiel. "Wir hatten nicht geglaubt, dass derartige strukturelle Diskriminierungen noch bis heute institutionalisiert sind", so der Theologe. Sein Fazit: "Als Fremder musst Du hierher Humor mitbringen."

Nach einem ersten Jahr Sprachschule in Bochum zog Kileo 2008 mit seiner Familie nach Kaufbeuren, ins tiefste Allgäu. Dort nahm er seinen Dienst als Pfarrer in der Kirchengemeinde Kaufbeuren auf. Nur etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung gehört dort der evangelisch-lutherischen Kirche an. "Der Kirchenvorstand der evangelischen Kirche in Kaufbeuren war mutig", sagt Kileo. Denn als er sein Heimatland Tansania verließ, um mit seiner Familie nach Deutschland zu ziehen, wartete ein fremdes Land mit einer ganz anderen Kultur und Mentalität auf ihn. "Als afrikanischer Pfarrer solle ich nach Deutschland gehen, um dort mitzuwirken, wo, wie pauschal gesagt wurde, das Christentum in den letzten Zügen liegt", erklärt Kileo.

Was bedeutet "schwarz", "rot", "gelb"?

Seine sonntäglichen Gottesdienste in Deutschland vor einer halb vollen Kirche zu halten, ("In Franken waren es einmal nur neun Leute"), war für den tansanischen Pfarrer sehr gewöhnungsbedürftig. "Das war schon ein Schreck", erinnert er sich. Ein Blick auf die Situation in Tansania macht deutlich warum: In seiner vierjährigen Zeit als Pfarrer in zwei verschiedenen Kirchengemeinden in Tansania predigte Kileo durchschnittlich vor 1.500 Menschen.

Besuchern in Kaufbeuren zeigt Kileo gerne das Herzstück der Altstadt: die Dreifaltigkeitskirche. Der Afrikaner empfindet es als große Ehre dort als Pfarrer sonntags zu predigen. Auch außerhalb der Kirchenmauern, in der Kaufbeurer Altstadt, ist der Pfarrer bekannt. Viele Passanten heben zum Gruß die Hand. Der Bürgermeister hält an, um ihn zu grüßen und beginnt mit dem "Herrn Pfarrer" einen kleinen Plausch. Wenig später trifft der Vater zweier Söhne im Vorbeilaufen die Hebamme seiner Frau. Der Tansanier verströmt Optimismus und Lebensfreude. Das mögen die Deutschen.

"Es hat lange gedauert, bis ich die Zusammenhänge hier kapiert habe", sagt der 38-Jährige, weißes Hemd, schwarzer Pulli, darüber hellgraues Sakko, während er in seinem Lieblings-Dönerladen wenige Fußminuten von der Kirche entfernt Platz genommen hat. Zum Beispiel das Wort "Koalition". Überall hörten er und seine Frau Linda dieses Wort zu Beginn ihres Aufenthaltes in den Medien. Doch was war das genau? Und was bedeuteten "schwarz", "rot", "grün" und "gelb"? Auch mit der diplomatischen Umschreibung vieler deutscher Wörter hatte Kileo im "Land der Formulare und Regeln" anfangs Schwierigkeiten. Probleme hießen "Herausforderungen" oder gar "Chancen", Altenheime nannten sich "Seniorenresidenzen". "Da kapieren Menschen mit sprachlichen Defiziten oder Fremde nicht allzu schnell, was gemeint ist", meint Kileo.

"Bei uns isst man abends Brot, wenn man sonst nichts hat"

Insbesondere der Allgäuer Dialekt stellte für den Pfarrer und seine Familie, seine Frau und seine Söhne Ian (4) und Ivan (7)  eine "Herausforderung" dar. Allgäuerische Wendungen wie "It viel rede, ebbas due", erschienen dem Afrikaner wie eine weitere Fremdsprache. Oder die Sache mit dem Regen. Im Allgäu muss man spezifizieren, ob es "trepfnet", "renglet", "soicht", "schiffet", "sauet" oder "kieblet". "Das war nicht langweilig", erinnert sich Kileo.

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Gewöhnungsbedürftig war für Kileo, der 1975 als ältestes von acht Kindern in Arusha (Nordosten Tansanias) geboren wurde, auch die deutsche Esskultur. Manchmal sei bei Einladungen zum Abendessen in Familien Brot mit Käse serviert worden, obwohl die Einladung schon lange vorher ausgesprochen worden war. "Bei uns isst man abends Brot, wenn man sonst nichts zum Essen hat", erklärt der Pfarrer. Auch die deutsche Eigenart und Vorliebe, in Konferenzen gesalzene Brezeln mit Käse und Butter anzubieten, irritierte ihn zunächst. "Erstaunlicherweise aßen sie die Menschen ganz fröhlich."

Das Spiel mit Klischees und die Entdeckung typischer Mentalitätsunterschiede beschäftigten Kileo von Beginn seines Aufenthalts in Deutschlands an. "Immer wieder bin ich gefragt worden, ob ich nicht etwas über das Thema schreiben könnte", sagt Kileo. "Wie andere über uns denken, zählt, wenn wir danach suchen, wie wir wirklich sind." Im Frühling dieses Jahres ist sein erstes Buch erschienen, eine ungewöhnlich ehrliche, oft humorvolle, meist nachdenklich stimmende Bilanz seiner Begegnung mit der deutschen Kultur: "Grüß Gott aus Afrika! Deutsche Mentalität aus Sicht eines tansanischen Missionars", lautet der Titel.

Von der Wir-Kultur zur Ich-Kultur

In punkto Zeitmanagement ist es ihm, wie Kileo lächelnd eingesteht, "nicht gut gelungen", afrikanisch zu bleiben. "Ohne Pünktlichkeit geht es in Deutschland nicht", so der Pfarrer über seinen Wechsel von der "Polepole"- (langsam) zur "Zackzack-Gesellschaft". Vor allem in den sonntäglichen Gottesdiensten mit permanentem Zeitdruck stößt er an seine Grenzen: "15 Minuten Predigtzeit. Und dann der parallel ablaufende Kindergottesdienst…." Hellhörig wird er, als Kollegen im Februar über einen Tauftermin im Juli disputierten. "Richtig irre wurde die Situation aber dann, als während der Diskussion festgestellt wurde, dass das Kind noch gar nicht geboren war!"

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Nicht immer kommt Deutschland in Kileos Kritik gut weg. "In Tansania herrscht das 'Wir-Gefühl' und hier das 'Ich-Gefühl', so der Pfarrer. "Ja, die Gemeinschaft fällt den Menschen hier schwer. Man fürchtet sich vor Verpflichtungen." In seinen ersten Monaten erlebt er Coolness und Distanziertheit statt Wärme und Herzlichkeit. "Als wir in Deutschland ankamen, wirkten viele Menschen sehr konzentriert und beschäftigt", so Kileo. Als Fremder habe man den Eindruck, dass sich in Deutschland jeder um seine Angelegenheiten alleine sorge. Doch der tansanische Missionar denkt weiter: "Vielleicht geht es hier um eine ganz andere Art von Gemeinschaft. Um eine institutionalisierte Gemeinschaft." Sogar die Armen würden von Institutionen wie der "Sozialhilfe" oder der "Tafel" versorgt.

An der deutschen Mentalität gefallen Kileo Dinge wie der außerordentliche Fleiß der Menschen. Auch die politische Stabilität in Deutschland und die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung sind Aspekte, die den Tansanier bis heute tief beeindrucken. Als Pfarrer begeistert ihn die lebendige Ökumene in der Evangelischen Kirche in Deutschland. "Ich bin ein tansanischer Pfarrer, der nicht weiß, wie eine katholische Kirche in Tansania von innen aussieht, aber hier in Kaufbeuren darin sogar predigen dürfte." Wo er herkomme, so Kileo, gebe es keine ökumenischen Gottesdienste. "Sogar der Weltgebetstag wird getrennt gefeiert."

"Ein bisschen zack-zack werden wir mitnehmen"

Überrascht hat Kileo das hiesige Afrikabild. "Das Afrika, das wir hier präsentiert bekommen, ist nicht das Afrika, das wir kennen", so Kileo. Immer noch habe Deutschland das koloniale Afrikabild verinnerlicht. "KKK" könne nicht nur für das überkommene Frauen-Klischee (Kinder, Küche, Kirche) stehen, sondern auch für das Afrika-Klischee "Krieg, Korruption, Krankheiten". Zugleich würde der ganze Kontinent brutal als "ein schönes Land" bezeichnet oder mit Singen, Tanzen und Trommeln gleichgesetzt. Afrika sei jedoch ein Kontinent mit vielen verschiedenen Ländern und Völkern und einer bunten, vielfältigen Kultur. Er selbst ist am Westhang des Kilimandscharo aufgewachsen, "in einer großen Familie", wie er betont. Er hat sieben Geschwister; vier Brüder und drei Schwestern. Emmanuel ist der einzige Theologe unter ihnen. Seine Geschwister studieren oder arbeiten als Lehrer, Arzt, Ingenieure oder IT-Fachleute.

Sechs Jahre sind seit Kileos Ankunft in Deutschland vergangen, sein zweiter Sohn Ivan wurde in Kaufbeuren geboren. Die Kinder fühlen sich in Schule und Kindergarten wohl und haben Ersatzomas und – opas gefunden. Seine Frau Linda studiert Betriebswirtschaftslehre in Augsburg. Die Familie hat Freundschaften geschlossen. "Trotzdem freuen wir uns wieder sehr auf Tansania", sagt Kileo. "Wir vermissen unsere Verwandten, unsere Rituale." Besonders sehnt sich Kileo in Deutschland nach seinem Leibgericht: "Gekochte Bananen mit Rindfleisch, dazu Süßkartoffeln", schwärmt der Pfarrer. "Das Rindfleisch, das wir hier bekommen, schmeckt uns einfach nicht so gut wie in Tansania."

Die deutsche Eigenart mit dem Brot hat die tansanische Familie mittlerweile übernommen. "Das essen wir jetzt abends häufig. Vor allem, wenn es schnell gehen muss", so Kileo. Nächstes Jahr möchte die Familie wieder zurück nach Tansania ziehen. "Ein bisschen zack-zack werden wir mitnehmen", sagt Kileo. Auch den nachhaltigen Umgang mit der Natur und ein neues Umweltbewusstsein will Kileo nach Tansania tragen. Die große Angst seiner Verwandten, er und seine Familie könnten sich in der neuen säkularen Kultur verlieren, ist jedoch unbegründet. Kileo kennt, pflegt und lebt seine Wurzeln. In seinem Buch zitiert er ein Sprichwort aus Mali. Es heißt: "Ganz egal, wie lange ein Baumstamm im Wasser liegt, er wird kein Krokodil werden."