Lutherbibel: Durchsehen, nicht neu übersetzen

Sprache und der Gebrauch von Begriffen ändern sich permanent. Auch in der Bibel.
Foto: epd-bild / Jens Schulze
Sprache und der Gebrauch von Begriffen ändern sich permanent. Auch in der Bibel.
Lutherbibel: Durchsehen, nicht neu übersetzen
Pünktlich zum Reformationsjubiläum 2017 soll die Lutherbibel in einer neu durchgesehenen und überarbeiteten Fassung herausgegeben werden. Die erste Durchsicht des Neuen Testamentes steht kurz vor ihrem Abschluss. Ein Interview mit Martin Karrer - er leitet die neutestamentliche Arbeitsgruppe.

Herr Karrer, wie muss man sich ihre Arbeit vorstellen: Übersetzen Sie das Neue Testament noch einmal neu?

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Martin Karrer: Nein, nein. Wir vergleichen Luthers Bibelübersetzung von 1545 und die aktuelle Lutherausgabe von 1984 mit dem griechischen Text, so wie wir ihn heute vorliegen haben.

Wie unterscheiden sich der griechische Text, den Luther übersetzte, und der griechische Text von heute?

Karrer: Luther benutzte für seine Übersetzung die griechische Ausgabe des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam. Erasmus war zu seiner Zeit ein überaus angesehener Mann. Luther stritt sich mit ihm über die Theologie, aber seinen Bibeltext kritisierte er nicht. Er wich nur manchmal stillschweigend von ihm ab. Dabei enthielt dieser Bibeltext erhebliche Schwächen. Das haben die wichtigen alten Handschriften des Neuen Testaments aufgedeckt,  die seither gefunden wurden  und die in den griechischen Text der heutigen wissenschaftlichen Ausgaben eingeflossen sind.

Machen diese Handschriften denn einen Unterschied?

Karrer: Nehmen wir ein Beispiel, Philipper 4,7. Das ist ein sehr bekannter Vers: "Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus." Luther bezweifelte hier den Erasmustext und übersetzte nach seiner lateinischen Vorlage: "der Friede Gottes bewahre". Im griechischen Text steht aber das Futur: "der Friede Gottes wird bewahren." Diese Stelle ist seit dem 16. Jahrhundert nie korrigiert worden. Wir finden, das sollte man tun; denn im Futur macht er eine viel stärkere Zusage.

Dieser Vers ist der sogenannte Kanzelsegen, den jeder Pastor sonntags nach der Predigt sagt. Muss das jetzt auch geändert werden?

Karrer: Der Gebrauch im Gottesdienst wird von uns nicht festgelegt. Er ist auch von der Kirchengeschichte geprägt. Um der Tradition willen könnte der Text also weiterhin im Konjunktiv stehen. Wünschenswert wäre aber eine Anpassung.

"Man muss sich nicht an der deutschen Bibel des 16. Jahrhunderts orientieren, sondern an den griechischen Texten"

Die anglikanische Kirche in England nutzt die King-James-Bibel. Der Text dieser Bibel ist seit 1769 nicht mehr verändert worden. Warum müssen die Deutschen die Lutherübersetzung überarbeiten?

Karrer: Das ist eine spannende Frage. Gerade an der King-James-Bibel lässt sich der Unterschied zwischen dem englischen und deutschen Umgang mit der Bibeltradition sehr deutlich sehen. Der Text der King-James-Bibel wurde am Anfang des 17. Jahrhunderts vom Griechischen ins Englische übersetzt, also mehr als fünfzig Jahre nach Luthers Übersetzung. Damals wusste man schon, dass der griechische Text von Erasmus nicht ideal war. Deshalb benutzte man die jüngere Edition Bezas, die gelegentlich eigene Textvorschläge machte. Das führte dazu, dass es in der englischen King-James-Bibel im Buch der Offenbarung eine Stelle gibt, deren Übersetzung keiner einzigen alten Handschrift folgt (der Gottesname in Offb 16,5). Das ist quasi ein neuer Bibeltext. Die Anglikanische Kirche hält wegen der Bedeutung der King James-Bibel trotzdem an dieser Tradition fest. Wir allerdings finden, man muss sich nicht an der deutschen Bibel des 16. Jahrhunderts orientieren, sondern an den griechischen Texten.

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Wird ein Nicht-Theologe den Unterschied zwischen der alten und der neu durchgesehenen Lutherbibel überhaupt bemerken?

Karrer: Sicher. Ich kann allerdings nur von der Arbeit meiner Gruppe berichten. Wir machen Vorschläge, über die der Rat der EKD entscheiden muss. Wie viel übernommen wird, liegt daher nicht an uns. Aber ich nenne Ihnen noch ein Beispiel dafür, wie gravierend manche Änderungen sind. 1984 hatte man die Absicht, den Bibeltext für das 20. Jahrhundert zu aktualisieren. Bei liturgischen Texten achtete man deshalb sehr auf Übereinstimmungen mit der Praxis. Bei der Austeilung des Abendmahls nun wurde – und wird – häufig gesprochen: "Christi Leib, für dich gegeben." Diesen Satz wollte man auch im Neuen Testament lesen.

In der Lutherübersetzung von 1984 passte man dem die Abendmahlsworte bei Paulus an (1 Kor 11,24). Freilich steht das "gegeben" in keiner einzigen alten Handschrift, außer in der koptischen Übersetzung. In den Handschriften steht: "Das ist mein Leib für euch." Oder allenfalls (schlechter bezeugt) die frühere Fassung der Lutherbibel: "Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird." Die Lutherbibel von 1984 muss daher korrigiert werden. Ob im Gottesdienst wieder die ältere Formel gesprochen werden sollte, kann ich nicht beantworten.

Das Grundprinzip Ihrer Arbeit ist also: Zurück zum Anfang?

Karrer: Unser Ziel ist es, dass der Text alle modernen textkritischen Erkenntnisse berücksichtigt und gleichzeitig die Stärke der Lutherübersetzung herausstellt. Wir werden an etlichen Stellen zurückkehren zur Lutherübersetzung von 1522, der ersten Bibelübersetzung, die Luther angefertigt hat.

Was bedeutet das zum Beispiel für die Weihnachtgeschichte, die in ihrem Wortlaut ein Klassiker ist?

Karrer: Dazu kann ich noch nichts sagen. Über das Lukasevangelium sprechen wir in der Arbeitsgruppe erst im Herbst. Ich vermute aber, dass sich nicht viel ändern wird.

"Das griechische Wort 'adelphoi', Brüder, meint dort die Schwestern mit. Das wird heute nicht mehr verstanden"

Wird sich an den Worten Jesu etwas ändern?

Karrer: Ja, ich nenne Ihnen ein markantes Beispiel, die Seligpreisungen. Luther übersetzte deren siebte:  "Selig sind die Friedfertigen" (Mt 5,9). Aber er merkte, dass sich die Bedeutung des Wortes "friedfertig" zu seiner Zeit änderte. Weil das Wort sehr schön ist, verwendete er es trotzdem, fügte jedoch in einer Anmerkung hinzu, es handle sich nicht um friedsame Menschen, sondern um die, die den Frieden machen. Die Fried-fertigen sind also die, die den Frieden an-fertigen. Heute allerdings wird "friedfertig" nur noch als "friedlich" oder "ruhig" verstanden, deshalb schlagen wir vor: "Selig sind die, die Frieden stiften"  zu schreiben und in einer Fußnote zu erklären, warum Luther anders übersetzte.

Wird es genderspezifische Änderungen geben? Wird man bei Ihnen von Hirten und Hirtinnen lesen?

Karrer: Hirtinnen wird man/frau kaum finden. Eine wichtige genderspezifische Änderung, die die neutestamentliche Gruppe und der alle Gruppen übergreifende sogenannte Lenkungsausschuss vorschlagen, betrifft aber die Anrede in den neutestamentlichen Briefen. Das griechische Wort "adelphoi", Brüder, meint dort die Schwestern mit. Das wird heute nicht mehr verstanden. Wir schlagen deshalb vor, dort "Brüder und Schwester" zu schreiben, weil sich sonst Frauen, die zum ersten Mal eine Bibel aufschlagen, ausgeschlossen fühlen könnten. Endgültig muss das vom Rat der EKD entschieden werden.

In der Lutherbibel von 1984 wird bei manchen Versen schon darauf hingewiesen, wo sich Überlieferungen unterscheiden. Werden Sie dieses Prinzip beibehalten?

Karrer: Das werden wir. Aber wie die Textgestaltung genau aussehen wird, ist noch nicht klar. Zum Beispiel gehörten zur Heilung am Teich Bethesda in Johannes 5 zur Zeit Luthers zwei Verse (3b-4), die von einem Engel sprachen. Sie sind recht bekannt, doch schlecht überliefert. Die Frage ist: Soll man den schlechter überlieferten Text in Klammern setzen? Oder besser unter den Haupttext stellen? Soll man im Haupttexte eine Lücke lassen, damit die Leser nicht verwirrt sind, wenn auf Vers 3 Vers 5 folgt? Darüber müssen die Gremien noch entscheiden.

Einige Zwischenüberschriften sind seit langem umstritten. Wird sich auch daran etwas ändern?

Karrer: Mit Sicherheit wird sich da etwas ändern. Wobei man sagen muss, dass die Zwischenüberschriften kein Bestandteil des griechischen Bibeltextes sind. Wir haben also dort von vornherein mehr Freiraum für Veränderungen.

Die Bibel ist ein sensibles Thema. Was glauben Sie: Wie werden die evangelischen Christen in Deutschland auf die "neue" Lutherbibel reagieren?

Karrer: Wir hoffen, dass die Durchsicht die Rezeption der Lutherbibel erleichtern wird; dass eine wirklich zuverlässige und gute Übersetzung entsteht, die von den Gemeinden angenommen wird. Die Lutherbibel von 1975 versuchte noch die Konkurrenz zu anderen modernen Übersetzungen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir müssen dem ins Auge sehen, dass es inzwischen eine große Vielfalt von Bibelübersetzungen gibt. Die Lutherbibel soll sie nicht ersetzen. Wenn jemand zum Beispiel über eine Basisbibel einen leichteren Zugang zum Bibeltext findet, ist das völlig in Ordnung. Aber wenn man einen Text braucht, über den man gemeinsam in der Gemeinde sprechen kann, dann muss man weiterhin zur Lutherbibel greifen können. Wir hoffen, dass das von den Gemeinden auch getan wird.