Diskussionswürdig: "Auf der Flucht - Das Experiment"

Nazi-Aussteiger Kevin Müller und Schauspielerin Mirja du Mont (M)
Foto: dpa/Jonas Dress
Nazi-Aussteiger Kevin Müller und Schauspielerin Mirja du Mont (M) besuchen im Rahmen der Dreharbeiten Äthiopien.
Diskussionswürdig: "Auf der Flucht - Das Experiment"
So viel virale Aufmerksamkeit in der geschätzten jungen und internetaffinen Zielgruppe wie mit "Auf der Flucht - Das Experiment" hat eine ZDFneo-Serie bislang selten bekommen. Nach zwei von vier knapp 45-minütigen Folgen lässt sich sagen: So zynisch wie Petenten im Internet befürchten, ist die Sendung nicht angelegt, vielmehr handelt es sich um im positiven Sinne diskussionswürdiges Fernsehen.
23.08.2013
epd
Christian Bartels

Schuldlos an der Aufregung ist das ZDF allerdings nicht. Die Serienmacher greifen mit derart vollen Händen ins Arsenal des Scripted-Reality-Genres, als gelte es, um jeden Preis eine tägliche Endlos-Serie aufzupeppen: Immer wieder werden dieselben Tränen von Mirja Du Mont (der einzigen im Fernsehsinne halbwegs "prominenten" Mitwirkenden) und weitere gefühlig-reißerisch Ausschnitte eingespielt. Immer wieder soll Musikuntermalung die angestrebten Emotionen noch verdoppeln.

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Immer wieder wird auf abstruse Weise Spontaneität simuliert: Sobald die Deutschen mit echten Flüchtlingen laut Off-Kommentar "ins Gespräch kommen", sprechen sie Deutsch und ihre Gesprächspartner antworten auf Englisch. Immer wieder spricht der unnötigerweise als Spielleiter agierende Journalist Daniel Gerlach (Herausgeber der Zeitschrift "Zenith - Zeitschrift für den Orient") in bemühter Betonung Sätze wie: "Ihr werdet in den nächsten drei Wochen Extremerfahrungen machen!"

Und immer wieder vermittelt der besserwisserisch raunende Off-Kommentar den Eindruck, es gehe wesentlich um die Binnendynamik der deutschen Teilnehmergruppen ("Ein Spaziergang im Park soll die Gemüter beruhigen") wie beim Dschungelcamp. Diese auf hibbelig zappendes Publikum abgestimmte Mischung aus erheblicher Redundanz und Oberflächlichkeit erweckt den Eindruck, die Macher selbst hielten den Inhalt nicht für spannend.

Authentische Momente und seriöse Informationen

In der Serie, die auf dem australischen Format "Go Back To Where You Came From" basiert, reisen zwei aus drei Personen bestehende Gruppen nach Eritrea und Irak - auf Wegen, die viele Flüchtlinge aus Afrika und über Südeuropa nach Deutschland nehmen. Dabei entfaltete "Auf der Flucht" zumindest in Folge zwei durchaus Fernsehmomente von selten erreichter Authentizität - wenn etwa die türkischstämmige Sozialarbeiterin Songül Cetinkaya und der weniger eloquente Naziaussteiger Kevin Müller angesichts eines Flüchtlingsquartiers in Rom in ein unmoderiertes Streitgespräch ausbrechen.

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Da scheint auch das Casting der deutschen Teilnehmer mit ihren unterschiedlichen Hintergründen durchaus gelungen, zumal sie nicht immerzu und überall zu posieren und ihre aktuellen Befindlichkeiten in die Kamera zu formulieren bereit sind. Gelegentlich revidieren sie angesichts neuer Eindrücke sogar frühere Ansichten.

Und wenn die ebenfalls gern mit Tränen gezeigte, als "Bloggerin und Thilo Sarrazin-Fan" vorgestellte Katrin Weiland durch einen Drahtzaun mit Dutzenden Flüchtlingen in einem griechischen Abschiebelager spricht und anschließend der Off-Kommentar sowie eine zufällig anwesende Grünen-Politikerin über die Drittstaatenregelung des europäischen Flüchtlingsrechts informieren, vermittelt die Sendung im dramaturgisch aufgeladenen Rahmen dennoch seriös Informationen.

Aktuell brisant und inhaltlich diskutabel

Den Anschein, die deutsche Protagonisten würden ein "Abenteuer" nachspielen, erweckt allenfalls die hochtourig überdrehte Nachbearbeitung des gefilmten Materials, nicht jedoch der Gesamtzusammenhang. Dass die künstliche Konstruktion eines Sendeformats mit zwar etwas obskuren, aber auch irrelevanten "Spielregeln" dazu dient, deutschen Fernsehzuschauern in neuartiger Form selten gezeigte Einblicke zu vermitteln, lässt sich durchgängig erkennen.

Die Präsenz der Kamera, vor der die deutschen Reisenden agieren, bleibt offensichtlich. Nur die Kamera selbst scheint sich mitunter zu vergessen: In Folge 2 zeigte sie, wie ein Flüchtling einen epileptischen Anfall erlitt und die Umstehenden ihn zu verarzten versuchten - bis ausgerechnet Stephan Weidner, der ehemalige Bassist der als Rechtsrockband kritisierten Böhsen Onkelz (der als Zeichen seiner Distanzierung von rechts lang wallendes Haar trägt), darauf drang, die Privatsphäre zu wahren und gefälligst mit dem Filmen aufzuhören. Wenn der im Format enthaltene Hang zum Voyeuristischen vor der (noch) laufenden Kamera entlarvt wird, ist das durchaus gutes Fernsehen auf der Höhe der Zeit.

Kurzum: Über "Auf der Flucht" lässt sich auf vielen Ebenen streiten - jedoch so, wie sich über öffentlich-rechtliche Programme - zumal die experimentellen der digitalen Nischensender - öfter streiten lassen sollte. Den Ärger hat ZDFneo sich durch die anbiedernd nachahmende Privatfernseh-Machart selbst eingehandelt. So aktuell brisantes und inhaltlich diskutables Fernsehen hat der Sender aber nicht oft im Programm.