Nightliner haben ein offenes Ohr für Kommilitonen

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Nightliner haben ein offenes Ohr für Kommilitonen
Mehrere Hundert Studenten machen in 14 Universitätsstädten regelmäßig die Nacht durch - aber nicht, um zu feiern, sondern um anderen zu helfen. An den "Nightlines" haben sie ein offenes Ohr für ihre Kommilitonen. Ob Prüfungsstress, Liebeskummer oder Ärger in der WG – alle Sorgen der Anrufer behandeln die Ehrenamtlichen absolut vertraulich.
11.12.2013
Katharina Bons

Nur ihr Freund und ihre Eltern wissen, warum Steffi fünf bis sieben Mal im Semester die Abende nicht zu Hause verbringt. In einem Büro irgendwo in Münster sitzt sie dann bis 1 Uhr nachts vor dem Telefon – und hört sich die Probleme und Sorgen von unbekannten Kommilitonen an. Seit eineinhalb Jahren ist die 24-Jährige bei der Nightline - einem Zuhörtelefon  von Studierenden für Studierende. In mittlerweile 14 Unistädten organisieren angehende Akademiker dieses Angebot für andere – unter anderem in Köln, München, Aachen, Greifswald und Potsdam. Im vergangenen Wintersemester haben 264 Freiwillige bei zehn Nightlines 707 Anrufe entgegen genommen.

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"Die Leute rufen an, weil sie sich schlecht fühlen, weil sie eine Klausur nicht bestanden haben, weil sie nicht einschlafen können oder weil sie sich alleine fühlen", berichtet Steffi, die eigentlich anders heißt. Anonymität ist den Nightlinern sehr wichtig. Kein Anrufer soll sich nicht trauen, sich zu melden, weil er befürchtet, eine WG-Mitbewohnerin oder ein Sitznachbar aus dem Seminar könnte am anderen Ende der Leitung sein.

Auch Anna hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Sie ist seit 2008 bei der Nightline in Heidelberg aktiv. "Beziehungsstress, Unistress, WG-Stress oder Probleme mit dem Elternhaus – es sind die klassischen Themen, die man auch mit Freunden bequatscht", zählt sie auf, mit welchen Anliegen sich Anrufer nachts an sie wenden. "Es hat aber eine ganz andere Qualität, wenn jemand nur zuhört und keine Tipps gibt." Bei den Problemen rund ums Studium spiele Überforderung häufig eine Rolle oder dass sich Erstsemester erst in ihrer neuen Umgebung einfinden müssen, sagt Anna. Sehr selten komme es auch vor, dass jemand wegen Problemen mit einem Professor anrufe.

"Cool, dass da jemand ist, der zuhört"

Die Anonymität hat auch Vorteile für die Freiwilligen. Weil selbst unbekannt ist, wo die Nightliner vor den Telefonen sitzen, kann kein Anrufer versuchen, nach dem Ende des Gesprächs Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Auch dass die meisten Freunde und Bekannten nicht wissen, wie sie sich ehrenamtlich engagiert, findet Anna angenehm: "Mich fragt niemand, was die Themen sind oder gibt Ratschläge." Sie ist auf die Nightline aufmerksam geworden, als sie selbst mal "nicht so gut drauf war". Obwohl sie nicht angerufen hat, sei es "cool gewesen zu wissen, dass da jemand ist, der zuhört". Steffi hat nach einem Ehrenamt gesucht, weil sie anderen helfen will, sich besser zu fühlen. Ihr Engagement wird belohnt: "Die meisten Anrufer bedanken sich am Ende des Gesprächs."

Die erste deutsche Nightline wurde in Heidelberg gegründet. Seit 1995 haben dort Studenten ein offenes Ohr für andere. Eine Studentin hatte ein ähnliches Projekt bei einem Austauschsemester in England kennen gelernt und importierte die Idee. So haben sich über die Jahre weitere Zuhörtelefone gegründet. "Alle Nightlines sind unabhängig voneinander. Es gibt keinen Dachverband", berichtet Anna. "Wir reden aber viel miteinander. Es gibt ein Deutschland- und ein Europa-Treffen. Und wir sind alle derselben Idee verpflichtet."

Neben der Anonymität für beide Seiten gibt es weitere Regeln: Worüber gesprochen wird, bleibt geheim. "Die Anrufergespräche verlassen nicht den Raum", sagt Steffi. Und sie und die anderen Nightliner geben keine Ratschläge. Sie hören zu, fassen das Gesagte zusammen, stellen Fragen, helfen den Anrufern, ihre Gedanken zu ordnen. "Auch nach einem stundenlangen Gespräch, bin ich nicht in der Situation des Anrufers und kann ihm nicht sagen, was er tun soll", weiß Anna. Aber diesen Grundsatz an der Hotline auch zu beherzigen, das musste sie erst lernen. "Bei einer Anruferin dachte ich mal: Ich weiß die Lösung für dich. Das ist so klar, was du machen musst", erinnert sich die Studentin. Trotzdem musste sie es der Kommilitonin selbst überlassen, eine Entscheidung zu treffen.

Supervision und Rollenspiele

Wenn es um praktische Fragen geht, beispielsweise, wo es die besten Studentenkneipen gibt oder wie man sich einschreibt, gibt Steffi in Münster aber konkrete Antworten. "Es muss kein schwerwiegendes Problem sein. Wir nehmen jeden Anrufer ernst", sagt sie. Die freiwilligen Helfer machen ihnen aber auch deutlich, dass sie keine professionellen, psychologischen Beratungsstellen sind.

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Im Detail unterscheiden sich die Nightlines, zum Beispiel zu welchen Zeiten sie erreichbar sind. Das Telefon in Münster ist montags bis freitags von 21 bis 1 Uhr besetzt. Je zwei der 30 aktiven Nightliner schlagen sich gemeinsam die Nacht um die Ohren, idealerweise ein Mann und eine Frau. Die Anrufer können so entscheiden, wem sie sich lieber anvertrauen wollen. In Heidelberg besteht das Zuhörtelefon aus 35 Mitgliedern. Andere Standorte haben Probleme, genügend Freiwillige zu finden und bieten die Hilfe an weniger Tagen in der Woche an. In den Semesterferien übernimmt je ein Team den Dienst für eine Woche. So können die Anrufer auch in der vorlesungsfreien Zeit einen Ansprechpartner finden.

Auch die Schulungen für neue Mitglieder laufen teilweise unterschiedlich ab. In Heidelberg muss jeder Nightliner ein Wochenendseminar besuchen. In praktischen Übungen und Rollenspielen lernen die neuen Teammitglieder von und mit den erfahrenen Nightlinern. Damit die Helfer ihre Arbeit reflektieren und über schwierige Gespräche sprechen können, gibt es Supervisionen mit einem Psychologen – in größeren und in kleineren Runden.

Im Schnitt 17 Minuten

Steffi studiert selbst Psychologie - wie viele der Nightliner. Aber auch Theologen, Juristen, Erziehungs-, Wirtschafts- und Naturwissenschaftler sind dabei. "Eine Zeit lang war die größte Gruppe bei uns die Physiker", berichtet Anna, die selbst ein geisteswissenschaftliches Fach studiert. Die Heidelberger Nightliner sind zwischen 19 und 34 Jahre alt, manche haben ihr Studium gerade erst begonnen, andere schreiben schon an ihrer Doktorarbeit.

Was alle gemeinsam haben: Sie erhalten für ihre Hilfe kein Geld. In Heidelberg bezahlen die Mitglieder selbst sieben Euro pro Semester, um unter anderem die Fahrten zum Deutschland-Treffen zu finanzieren. Darüber hinaus ist die Nightline Stiftung im Aufbau. Studenten und ehemalige Nightliner wollen die bestehenden Zuhörtelefone fördern, die Einrichtung von neuen unterstützen und den Freiwilligen bei der Vernetzung helfen. Das aktuellste Projekt des Vereins "Förderinitiative Nightlines Deutschland": Sechs Gruppen werden dabei unterstützt, künftig auch per E-Mail anonym zu helfen.

Laut Statistik der Stiftung dauert ein Gespräch im Schnitt 17 Minuten. Wie viele Anrufer sich pro Schicht melden, variiere stark, berichten beide Ehrenamtlerinnen. "Gerade gibt es bei uns sehr viele Anrufer pro Tag", sagt Anna. Warum manchmal in einer Woche niemand Hilfe sucht und es dann wieder Abende gibt, an denen Anna zwischen zwei Gesprächen kaum verschnaufen kann, dafür hat sie noch keine Erklärungen gefunden. "Was ich sagen kann: Wenn Fußball läuft, ruft keiner an."