"Nicht gleich nach dem Staat rufen"

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Ein Rädchen greift ins andere: Sozialgenossenschaften beruhen auf dem Gedanken der Solidarität.
"Nicht gleich nach dem Staat rufen"
Sozialgenossenschaften leben vom Gemeinsinn und können millionenschwere Projekte stemmen
Kleine Anteile ermöglichen Großes: Genossenschaftsmitglieder sind Entscheidungsträger, Geschäftspartner und Kapitalgeber in einer Person. Diese Rechtsform gilt als ideal für einen gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb - besonders bei Sozialprojekten.
15.12.2013
epd
Dirk Baas

Es steht Spitz auf Knopf: Gibt der Regensburger Stadtrat grünes Licht für einen Grundstücksverkauf, dann wird sich das Leben von 19 Familien mit ihren schwerbehinderten Kindern gründlich verändern. Sie wollen auf dem citynahen Areal eine Wohnanlage für Menschen mit und ohne Handicap bauen. Eine extra gegründete Genossenschaft will das Projekt realisieren - laut Experten die ideale Gesellschaftsform für dieses mutige Vorhaben.

"Ein zentraleres Grundstück gibt es nicht"

Es geht um 3.800 Quadratmeter in der verlassenen Nibelungenkaserne, aus der ein neuer Stadtteil entsteht. Das Gelände ist städtisches Eigentum - und sehr begehrt: "Alle wollen dahin. Ein zentraleres Grundstück gibt es hier nicht", sagt Annette Fischer, Vorstand der neuen Genossenschaft "W.I.R. Wohnen Inklusiv Regensburg eG".

###mehr-info###Die Wohngenossenschaft mit sozialem Zweck will eine Anlage für 90 Personen bauen, in die drei Wohngruppen für je sechs behinderte Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf integriert sind. Noch ist das Rennen um das Grundstück nicht gelaufen. Fischer ist zwar vorsichtig optimistisch, dass das geschätzte zehn Millionen Euro teure Projekt Realität wird, sagt aber auch: "Scheitern kann alles im Leben."

Zusammenhalt der Mitglieder

Genossenschaften seien hervorragend geeignet, die soziale Infrastruktur zu verbessern, "wenn Bürger die Dinge selbst in die Hand nehmen. Man muss nicht immer gleich nach dem Staat rufen", sagt Theresia Theurl, Direktorin des Instituts für Genossenschaftswesen der Universität Münster. Der starke Zusammenhalt der Mitglieder mache selbst die Finanzierung von teuren Projekten möglich - und renditeorientierte Investoren überflüssig.

Seit einer Gesetzesreform 2006 können Genossenschaften auch zu kulturellen oder sozialen Zwecken gegründet werden. Das beflügelt: Für das laufende Jahr rechnet der Dachverband bundesweit mit über 300 neuen Initiativen. Dann wird es 7.900 genossenschaftliche Unternehmen geben. 

Auch die Kinder werden Mitglieder

Für die Genossenschaft als Träger anstelle etwa eines Vereins hat Fischer stichhaltige Argumente: "Unsere Kinder werden selbst Mitglieder und haben eine starke Rechtsstellung. Das lebenslange Wohnrecht macht sie für immer unabhängig von einem Vermieter."

"So anspruchsvolle Konzepte kann nur eine Genossenschaft verwirklichen", ist Urs Bürkle überzeugt. Er ist Leiter der Freiburger Vaubanaise eG mit derzeit 166 Mitgliedern aus ganz Deutschland - das Vorbild der Regensburger Initiative. Auf einer Fläche von etwa 3.500 Quadratmetern im Modellstadtteil Vauban sind als inklusives Projekt 40 Wohn- und Gewerbeeinheiten entstanden, die bereits fast vollständig belegt sind. Dank der genossenschaftlichen Finanzierung wurde das knapp acht Millionen Euro teure Bauwerk ohne staatliche Unterstützung Wirklichkeit.

Würdiges Sterben zu Hause

Doch es müssen gar nicht millionenschwere Bauten sein, mit denen tüchtige Genossen Lücken in der Infrastruktur schließen, wie Beispiele aus Bayern zeigen. So entstand 2011 in Dachau eine Genossenschaft zur "Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung" (SAPV Dachau eG). Sie ermöglicht schwerstkranken Menschen ein würdiges Sterben in den eigenen vier Wänden. 

###mehr-artikel###In München erwirtschaften die Mitglieder von "HausGemacht eG" ihre Löhne selbst: Frauen, die kaum Chancen auf reguläre Jobs am Arbeitsmarkt haben, werden hauswirtschaftlich geschult und anschließend stundenweise in Privathaushalten eingesetzt.

Suche nach Mitstreitern

"Kinder mit Assistenzbedarf verlassen die Wohnung der Eltern nicht von alleine", weiß Bürkle. Er rät Eltern deshalb, selbst aktiv zu werden und nach Mitstreitern für eine Wohngenossenschaft zu suchen. Dann könnten die Kinder auch nach dem Tod der Eltern in den gewohnten vier Wänden bleiben. Andernfalls müssten sie womöglich "mit 50 Jahren erstmals in ein Heim."

Falls der Kauf des ersehnten Baugrundstücks in Regensburg scheitert, müssen sich die "W.I.R"-Genossen neu sortieren. Einen Plan B haben sie nicht. Aber, so betont Annette Fischer: "Wir haben den Willen, nicht aufzuhören." Und das unverrückbare Ziel, ihren Kindern ein selbstbestimmtes Leben im Quartier zu ermöglichen. "Die wollen integriert und aktiv leben wie ihre Altersgenossen, und nicht bei uns Eltern alt werden."