"Kleine Schritte sind zu jeder Zeit und überall möglich"

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"Kleine Schritte sind zu jeder Zeit und überall möglich"
Wie Inklusion in der Praxis funktionieren kann
Laetitia ten Thije arbeitet als Pädagogische Fachberaterin mit dem Schwerpunkt Inklusion/Integration für den Arbeitsbereich Kindertagesstätten beim Diakonischen Werk Frankfurt am Main. Sie legt dar, warum die Rahmenbedingungen der Kitas manche Kinder erst recht stigmatisieren und warum sie ein offenes Kita-Konzept für besonders geeignet hält, um Inklusion zu verwirklichen.

Was verstehen Sie unter Inklusion?

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Laetitia ten Thije: Für mich ist das Recht auf Teilhabe elementar. Inklusion geht davon aus, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Jeder hat Anspruch darauf, die Unterstützung zu bekommen, die er oder sie braucht. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, religiösem, sozialem oder familiärem Hintergrund.

Gemeinsames Leben und Lernen ist immer umfassend zu verstehen und sollte so früh wie möglich beginnen. Nicht nur in Krabbelstuben, Kitas oder Tagespflegeeinrichtungen, sondern auch Schule, Arbeitsleben und Freizeitangebote sind mitzudenken. Inklusion ist kein zu erreichender Zustand, sondern entwickelt sich in einem offenen, gesamtgesellschaftlichen Prozess, der letztlich allen zugute kommt.

Sie sind Fachberaterin im Bereich Kindertagestätten. Welche Benachteiligungen spielen da eine besondere Rolle?

ten Thije: Familien in Frankfurt geben ein buntes und heterogenes Bild ab. Diese Vielfalt stellt eine große Ressource dar, aber Kinder und Eltern machen unterschiedlichste Erfahrungen mit sozialer Ausgrenzung. Sozial schwächere Familien haben erwiesenermaßen ein höheres Risiko aus unserem Bildungssystem herauszufallen, manchmal reicht schon ein falscher Nachname. Hinzu kommen oft Sprachbarrieren. Kinder mit Behinderung werden durch ein spezielles Aufnahmeverfahren hervorgehoben. Chancengleichheit zu ermöglichen und sich selbstkritisch dem Abbau von Barrieren – auch denen in den Köpfen – zu stellen, gehört daher zum Kernauftrag aller Kindertagesstätten. 

Welche gesetzlichen Regeln gelten für Einrichtungen, die inklusiv arbeiten (wollen)?

ten Thije: In Hessen gibt es die "Rahmenvereinbarung Integrationsplatz". Sie regelt beispielsweise, dass Kitas, die Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf aufnehmen, wöchentlich 13 bis 15 zusätzliche Personalstunden pro Kind bekommen. Sie reichen aber je nach Betreuungsbedarf oft nicht aus. Außerdem müssen Eltern und Träger diese Stunden für jedes Kind individuell beantragen. Das heißt erstens, dass die Gefahr einer Stigmatisierung besteht und zweitens, dass die Kita schnell personelle Probleme bekommt, sobald dieses Kind wegzieht, in die Schule kommt oder die Kita aus anderen Gründen verlässt, denn die Stunden sind an die "Integrationsmaßnahme" gebunden. Das gibt den Kita-Teams wenig Planungssicherheit und macht es schwer, das inklusive Arbeiten kontinuierlich auszubauen.

"Für die Eltern ist es eine schlimme Erfahrung, abgewiesen zu werden"

Grundsätzlich haben aber doch alle Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, unabhängig von Art und Grad ihrer Beeinträchtigung.

ten Thije: Ja, und da ist Hessen im Bundesvergleich sehr weit. Fakt ist aber, dass die Voraussetzungen in den Einrichtungen sehr unterschiedlich sind. Noch kann nicht jede Kita allen Anfragen nach einem Betreuungsplatz gerecht werden. Trotzdem gilt: Wenn sich ein Kind mit besonderem Bedarf in einer Kita anmeldet, sollte das Team gemeinsam mit den Eltern schauen, welche Unterstützungen das Kind und die Familie tatsächlich brauchen. Im zweiten Schritt können die Beteiligten dann prüfen, was sie leisten können, wo sie sich Unterstützung holen können und wo gegebenenfalls Grenzen sind.

Wo können die sein?

ten Thije: In besonderen Belastungssituationen, also beispielsweise, wenn es einige Wechsel im Team der Erzieher und Erzieherinnen gab, viele neue Kinder in die Einrichtung kamen oder die Kita gerade umgebaut wird und übergangsweise in einen Container ziehen musste. Dann entscheiden sich manche Kitas bewusst gegen die Aufnahme eines Kindes mit einem besonderen Betreuungsbedarf. Das halte ich für einen verantwortungsvollen Umgang.

###mehr-links### Nichtbesetzte Stellen aufgrund von Fachkraftmangel stellen eine weitere Barriere dar. In solchen Situationen ist es aber wichtig, die Eltern bei der Suche nach einem alternativen Betreuungsplatz zu begleiten, denn es ist eine schlimme Erfahrung abgewiesen zu werden. Hinzu kommt: Manche Kitagebäude sind sehr alt, entsprechend nicht barrierefrei gebaut und haben manchmal einfach zu wenig Platz. Um jedem Kind gerecht zu werden, braucht es aber Räume, in denen sich die Kinder zurückziehen können, welche, in denen sie bauen, basteln oder Bücher lesen können.

Erleben Sie auch Berührungsängste seitens der Erzieher und Erzieherinnen?

ten Thije: Manche haben Sorge, etwas falsch zu machen und haben ungenaue Vorstellungen, was sie leisten können und sollen. Einige Erzieher und Erzieherinnen fühlen sich unter Druck, weil sie glauben, den Eltern beweisen zu müssen, dass sie mit einem Kind weitergekommen sind. Dabei ist es nicht das Ziel, ein Kind zu "trainieren". Es geht darum, dass es möglichst normal mit anderen Kindern in einer Gruppe sein kann: Kontakte knüpft, sich anerkannt fühlt, einfach dazugehört.

Auch für das Team untereinander und die Strukturen der Kita ist inklusives Arbeiten ein Gewinn. Denn sobald sie sich damit beschäftigen, müssen sich die Kollegen austauschen. Viele Teams diskutieren dann Themen wie Wertschätzung und Offenheit. Sie fragen sich, welche Vorbehalte oder gar Ängste habe ich und wie gehe ich damit um? Sie können diskutieren, wieviel offene Arbeit sie zulassen und wann die Gruppentür zugemacht wird. Das sind Themen, die die ganze Einrichtung nach vorne bringen. Kleine Schritte in Richtung Inklusion sind zu jeder Zeit und überall möglich.

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Erleben das auch die Kita-Mitarbeiterinnen so?

ten Thije: Viele Erzieher und Erzieherinnen erzählen, dass die inklusive Praxis die eigene Arbeit aufwertet. Sich gemeinsam auf den Weg zu machen, stärkt die berufliche Rolle und das Selbstbewusstsein. Eltern von Kindern mit Behinderung gibt es Sicherheit, wenn sie wissen, dass die Kita Erfahrung mit verschiedenen Formen von Beeinträchtigungen hat. Eine Kita sollte sich als "lernende Organisation" verstehen. Es wird immer auch Unstimmigkeiten und Konflikte geben, die gilt es dann aufzuarbeiten. Da ist wechselseitiges Vertrauen wichtig – im Team und zwischen dem Team und den Eltern.

Haben Sie einen Tipp, wie Kitas konkret inklusiv arbeiten können?

ten Thije: Offene Arbeit ist in meinen Augen sehr gut dafür geeignet. Wenn sich Kinder – falls nötig mit Unterstützung – aussuchen können, mit wem sie in welchem Raum spielen oder lernen möchten, begegnen sich die unterschiedlichen Kinder. Das ist eine große Chance für alle. Wichtig ist es aber, im Team sowie mit Eltern und Trägern immer wieder offen Widersprüche zu diskutieren, eine gemeinsame "inklusive Philosophie" zu entwickeln.

Sind diakonische Einrichtungen in diesem Zusammenhang besonders gefordert?

ten Thije: Aus christlicher, evangelischer Sicht ist Inklusion eine zentrale Aufgabe. Das christliche Selbstverständnis verpflichtet besonders dazu, alle Menschen als gleichwertig zu behandeln und die Würde des Einzelnen in den Vordergrund zu stellen. Integrative Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft haben eine lange Tradition. Bereits vor über 30 Jahren haben einige Kitas in Frankfurt hier eine Vorreiterrolle übernommen und begonnen, integrativ zu arbeiten, also Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu betreuen. Das war damals etwas ganz Besonderes und hat bis heute Bestand.

"Das leistungsorientierte, mehrgliedrige Schulsystem macht inklusives Arbeiten schwer"

Was unterscheidet inklusives Arbeiten in der Kita von dem in der Schule?

ten Thije: Je jünger die Kinder sind, desto größer sind ihre Entwicklungsmöglichkeiten, denn sie lernen in dieser Phase besonders intensiv – also auch, dass das gemeinsame Aufwachsen von behinderten und nicht-behinderten Kindern selbstverständlich ist. Der Vorteil der Kita in Bezug auf Inklusion ist, dass nicht wie in der Schule im Stundentakt gelernt werden muss, sondern eher in Projekten. Der zeitliche Rahmen ist flexibler und die Kitas arbeiten weniger leistungsorientiert. Allerdings haben viele Eltern den Anspruch, dass ihre Kinder schon im Kindergarten gezielt Input bekommen, nach dem Motto: Mein Kind soll später Abitur machen. Dann ist es an den Erzieherinnen und Erziehern, den Eltern deutlich zu machen, dass für ihr Kind vor allem der Umgang mit Gleichaltrigen in einer Gruppe wertvoll ist: Es lernt Rücksicht zu nehmen, achtsam zu sein und vieles mehr, was im ganzen Leben wichtig ist.

Haben Sie Sorge, dass Kitas inklusive Ziele erreichen, die in der Schule wieder zunichte gemacht werden?

ten Thije: Ja, das erlebe ich und höre ich von Erziehern und Erzieherinnen, die oft frustriert und enttäuscht sind, dass sie kaum nach ihrem Fachwissen, ihren Erfahrungen und Einschätzungen gefragt werden, wenn Kinder von der Kita in die Schule wechseln. In der Zusammenarbeit zwischen Kita und Schule ist noch viel Entwicklungsbedarf. Auch für die Eltern bedeutet die Einschulung einen ziemlichen Bruch, weil plötzlich niemand mehr da ist, der sie und ihr Kind unmittelbar unterstützt. Das leistungsorientierte, mehrgliedrige Schulsystem macht inklusives Arbeiten in den Schulen schwer. Ohne den achtsamen Blick auf individuelle Ressourcen laufen Kinder mit Beeinträchtigungen Gefahr, aus der Regelschule herauszufallen. Kitas sind da bereits ein großes Stück weiter als Schulen.

Was muss sich aus Ihrer Sicht für Kitas ändern, damit Inklusion gelingen kann?

ten Thije: Ziel der Inklusion wäre, alle Einrichtungen so gut auszustatten, dass sie in der Lage sind, alle Kinder, die in der Umgebung leben, aufnehmen und gut betreuen zu können – auch die mit besonderem Förderbedarf. Aber das ist in Zeiten knapper Kassen natürlich schwierig. Kitas, die schon inklusiv arbeiten, sollten ermuntert werden, ihr Angebot auszubauen. Sie könnten auch Einrichtungen, die bisher noch keine Erfahrung damit haben, an ihrem Wissen teilhaben lassen. Ein weiterer wichtiger Punkt: Vor Ort braucht es eine bessere Vernetzung von Fachstellen zu dem Thema, so dass alle, die mit dem Thema Inklusion zu tun haben, wissen, was die jeweils Anderen anbieten, dann hat nicht der Einzelne das Gefühl, alles allein stemmen zu müssen.