"Ohne Homosexuelle wäre die Kirche aufgeschmissen"

Regenbogen-Faktor
Foto: thinkstock/Emdurodog
Weil Homosexuelle sich in der evangelischen Kirche nicht mehr verstecken müssen, können sie ohne Angst vor Widerständen in ihren Gemeinden Verantwortung übernehmen.
"Ohne Homosexuelle wäre die Kirche aufgeschmissen"
Ohne das Engagement vieler Schwuler und Lesben könnten einzelne kirchliche Unternehmen gar nicht existieren, sagt Autorin Petra Thorbrietz. Wo es holpert, wo überall Homosexuelle in der Kirche sind und was der Regenbogen-Faktor bewirkt, erzählt sie im Interview.

Liebe Deinen Nächsten, predigte Jesus. Warum haben die katholische Kirche, aber auch die evangelische Kirche, Probleme mit Homosexuellen?

Petra Thorbrietz: Das habe ich mich auch gefragt. Die Kirche von Rom greift ja in die theologische Trickkiste, um zu erklären, warum ausgeübte Sexualität an Ehe und Fortpflanzung gebunden sei und Homosexuelle deshalb "außerhalb der göttlichen Ordnung" stünden. Ihre Existenz ist in der Interpretation der katholischen Kirche "objektiv ungeordnet". Während meiner Recherche fragte ich also Theologen, was denn der Begriff "ungeordnet" bedeutet. Der erste Jesuit, dem ich diese Frage gestellt habe, ist gleich ins Stottern gekommen und hat zugegeben, so genau könne er das auch nicht sagen. Die Frage steht aber im Raum, ob die göttliche Ordnung eine Norm hat oder ob die göttliche Ordnung das zulässt, was wir heutzutage Diversity, also Vielfalt, nennen. Ebenso provokant bleibt unbeantwortet, warum der Herr solche "ungeordneten" Triebe denn überhaupt hat entstehen lassen, wenn er sie doch laut Bibel missbilligt.

Aber auch in evangelischer Sicht ist das Menschenbild im Kern auf Ehe und Familie "hingeordnet", und die "Orientierungshilfe" der EKD aus dem Jahr 1996 konstatiert in der gleichgeschlechtlichen Liebe eine Begrenzung der göttlichen Schöpfung. Dieses Papier ist durch die Praxis evangelischer Christen zwar längst überholt, aber dennoch nie zurückgezogen worden.

Sie sind der Ansicht, dass der Christen-Himmel weiterhin geteilt bleibt und sprechen von einer Klosterklause mit Verbindungstür. Was meinen Sie damit?

Thorbrietz: Damit meine ich die gelebte Doppelmoral. In der katholischen Kirche gibt es viele homosexuelle Männer, über deren sexuelle Orientierung nicht gesprochen wird. Körperlichkeit ist tabu. Stattdessen wird stets auf den Zölibat verwiesen, ganz nach dem Motto: wenn Sexualität nicht gelebt wird, dann existiert sie auch nicht. Diese Praxis der Verdrängung hat auch Tendenzen unterstützt, die mit Homosexualität gar nichts zu tun haben müssen, den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen etwa. Ich kann nachvollziehen, dass ein sich selbst auferlegter Zölibat aus spirituellen Gründen Sinn macht. Ihn aber institutionell zu verankern und als Gesetz zu verordnen, führt nur zu Neurosen.

David Berger, habilitierter Theologe, lebte vor seinem Coming-out 2011 bereits seit 20 Jahren heimlich mit seinem Partner zusammen. Alle wussten eigentlich Bescheid. Im Kloster bekamen beide automatisch ein Zimmer mit Verbindungstür, im Vatikan wurde sein Freund als Cousin vorgestellt. Man schwieg darüber hinweg. Die Toleranz hatte schließlich da ihre Grenzen, wo Berger das Doppelspiel nicht mehr mitmacht. Es kam zum Eklat. Die katholische Kirche entzog ihm die Lehrerlaubnis. Mittlerweile ist David Berger eine Art Popstar der Schwulenbewegung.

Sie schreiben, dass nach Schätzungen bis zu 60 Prozent des Klerus homosexuell sind. Warum richten sich oftmals diese Menschen selbst gegen das Schwulsein?

Thorbrietz: Das ist ja nicht untypisch - indem man andere ablehnt, versucht man, eigene ungeliebte Anteile zu negieren. Manche werden vielleicht Priester, weil sie sich unbewusst angezogen fühlen von der Männergemeinschaft voller sinnlicher Rituale. Andere werden katholische Priester, weil sie von ihrer eigenen Sexualität entsetzt sind, sich ihrer schämen. Sie wählen einen Lebensweg, der nicht durch Sexualität geprägt ist, und hoffen, sich dadurch verändern oder ihre "sündigen" Gedanken oder Taten sühnen zu können. Der Zölibat wird dann zweckentfremdet als eine Art Tarnkappe verdrängter Körperlichkeit: Er unterdrückt nicht nur den Sexualtrieb, sondern auch das Bewusstsein der eigenen Identität.

"Das Familienpapier der EKD ist ein revolutionärer Kurswechsel"

Vor Gott sind alle Menschen gleich, heißt es im Neuen Testament. Warum tut sich die evangelische Kirche mit Lesben und Schwulen leichter?

Thorbrietz: Ein wichtiger Punkt ist, dass die EKD mit ihren 22 Landeskirchen nicht zentralistisch organisiert ist und damit größere Vielfalt garantiert. Der Spielraum reicht von starken fundamentalistischen Tendenzen, die es auch in der evangelischen Kirche gibt, bis hin zu sehr liberalen Landeskirchen und einzelnen liberalen Gemeinden. Die liberale Haltung fängt damit an, dass die evangelische Kirche Pfarrerinnen akzeptiert, was im Katholizismus noch immer nicht möglich ist. Auch wird die Sexualität aus dem Pfarramt nicht ausgeklammert.

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Das EKD-weite Pfarrdienstgesetz ermöglicht seit 2010 das Zusammenleben homosexueller Paare im Pfarrhaus, wenn die jeweilige Landeskirche sich darauf verständigen kann. Auch in der evangelischen Kirche werden in Gemeinden Debatten geführt, die sich vor allem um die Rolle der Familie drehen. Mancherorts gibt es Bedenken, dass eine Pfarrerfamilie, die aus zwei Frauen oder Männern besteht, eine negative Vorbildwirkung haben könnte. Doch je offener in den Gemeinden über Homosexualität nachgedacht wird, umso normaler wird das Thema betrachtet. Heute gibt es viele schwul-lesbische kirchliche Gruppen, auch einen queeren Chor für geistliche Musik.

Also verpuffen irgendwann die Vorurteile gegenüber Homosexuellen?

Thorbrietz: Die Akzeptanz von Minderheiten bleibt ein holpriger Weg, der immer wieder Rückschläge bringen wird. Im internationalen Vergleich sehen wir, dass die wachsende Liberalität auf der anderen Seite zu Benachteiligungen und Beleidigungen gegenüber Homosexuellen führt, zum Teil sogar in der Gesetzgebung. Selbstbewusstes Auftreten wird von vielen als Provokation verstanden und erzeugt Gegendruck, wie das zuletzt in der lebhaften Diskussion rund um Conchita Wurst, Sieger/in des Eurovision Song Contest 2014, deutlich wurde. In den Kirchen aber denke ich, dass es für Lesben und Schwule leichter wird.

Ein Blick zurück: 1977 entstand beim Evangelischen Kirchentag in Berlin die bis heute aktive Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche (HuK), die von katholischen Christen gegründet wurde und auch für evangelische Christen eine ganz wichtige Basis war. Mittlerweile gibt es viele Plattformen für homosexuelle Christen, sich innerhalb und außerhalb der Kirche zu treffen. Einen revolutionären Kurswechsel markierte 2013 die Orientierungshilfe der EKD zum Thema Familie: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Die erweitert die christliche Familie um Patchworkfamilien und Alleinerziehende, Paare ohne Kinder und homosexuelle Lebenspartnerschaften, wenn diese Menschen füreinander da sind und sorgen. Leitbild ist nicht mehr die Form, sondern die Art des Zusammenlebens. Menschen sollen sich nicht mehr wegen ihrer Sexualität verstecken müssen.

"Lesben und Schwule gibt es in der evangelischen Kirche überall"

Das Buch "Der Regenbogenfaktor" trägt stolz den Untertitel: "Schwule und Lesben in Wirtschaft und Gesellschaft - Von Außenseitern zu selbstbewussten Leistungsträgern". Wo gibt es heute überall Lesben und Schwule in der Kirche?

Thorbrietz: Lesben und Schwule gibt es in der evangelischen Kirche überall: vom Professor bis zur Pfarrköchin. Zum Beispiel gibt es Traugott Roser, heute Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Münster. Als er seine Pfarrerlaufbahn in den 1990er begann, hat er offen gesagt, er möchte nur als schwuler Mann in dieser Kirche sein Amt antreten. Das wollte er nicht verschweigen. Das war damals ein sehr mutiger Schritt. Es gab zwar ausführliche innerkirchliche Diskussionen, doch seine sexuelle Orientierung wurde akzeptiert. Heute lehrt er Theologie und lebt in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft.

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Oder Horst Gorski. Er lebt als Probst offen schwul, ist zwar nicht wie gewollt Bischof in Nordelbien geworden, aber immerhin Mitglied der 11. Synode der EKD. Oder nehmen Sie als weiteres Beispiel Pfarrerin Daniela Loster, die im Saarland in der tiefsten Provinz mit einer Köchin als Pfarrfamilie zusammenlebt, mit dem Segen ihrer Kirche und der Gemeinde, wie sie selbst betont. Sie sagt: "Wenn man selbst kein Theater um die sexuelle Orientierung macht, wird sie auch für andere nicht zum Problem". Es sind Menschen, die an der Stelle, wo sie gerade im Leben stehen und wirken, sich outen können, beziehungsweise das vielleicht auch gar nicht mehr müssen.

Wo haben es Homosexuelle leichter: In der freien Wirtschaft oder in der Kirche?

Thorbrietz: Schwule und Lesben werden von großen Unternehmen gezielt unterstützt - so tun vor allem global agierende Firmen sehr viel für Diversity Management. Das ist dort längst Teil der Unternehmensphilosophie. Sie schätzen das kreative Potenzial solcher Randgruppen. Homosexuelle sind häufig überdurchschnittlich begabt und sehr engagiert, auch, weil sie sich auch durch ihre Sonderrolle in der Gesellschaft immer auch in besonderer Weise bewusst verhalten mussten. Deshalb fördern große Firmen schwullesbische Netzwerke, aber das wird nicht an die große Glocke gehängt. Denn Outings werden in der Wirtschaft nicht geschätzt. In Führungsetagen gibt es einen gewissen Männlichkeits-Code, der eingehalten wird. Da wird nicht viel über Lebenshaltungen geredet. Ich war erstaunt zu erfahren, dass es auch in Bereichen, in denen die Männlichkeitsrituale ähnlich oder noch stärker ausgeprägt sind, etwa bei der Bundeswehr oder der Polizei, es schon so viele offen homosexuell lebende Menschen gibt.

"Ohne Diversity könnte die Vielzahl der kirchlichen Unternehmen nicht existieren"

Was bewirkt der Regenbogenfaktor in der Kirche?

Thorbrietz: Die Vielzahl der kirchlichen Unternehmen könnten ohne Diversity gar nicht existieren. Im Pflegebereich zum Beispiel, einer wichtigen Domäne der Kirchen, arbeiten sehr viele Homosexuelle. Als frühere Vorsitzende des Christophorus Hospiz-Vereins in München habe ich viele schwule und lesbischen Christen kennengelernt, die in der Sterbebegleitung oder Krankenpflege Gutes tun, weil sie so, wie sie gestrickt sind, in der katholischen Kirche keinen Platz fanden.

Wenn man sieht, was Homosexuelle in der Kirche leisten, beispielsweise als Pflegende, als Sozialpädagogen, als Krankenhauspfarrer oder Seelsorger, muss man feststellen, dass ohne dieses Potential an Menschen, die sozial sehr engagiert sind und auch Verantwortung übernehmen, die Kirche mit ihren Einrichtungen aufgeschmissen wäre.

Was die Wertevorstellung betrifft, glaube ich, dass die gelebte Andersartigkeit helfen kann, Vielfalt auch an anderen Ecken zu akzeptieren. Zum Beispiel bei Familienkonstellationen, die nicht mehr Vater-Mutter-Kinder heißen, sondern auch Patchwork sind, Alleinerziehende oder sonstige Lebensformen miteinschließen. Mehr Offenheit erleichtert auch den Umgang mit anderen kulturellen Lebensformen oder Glaubensrichtungen. Wenn wir neugierig auf Menschen sind, die anders sind als wir selbst, dann können auch wir uns entwickeln.