Ökumene zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Heinrich Bedford-Strohm
epd-bild/Maria Bayer
Heinrich Bedford-Strohm zum Stand der Ökumene.
Gastbeitrag von Heinrich Bedford-Strohm
Ökumene zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Der frühere Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm setzt sich heute als Vorsitzender des Zentralausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen für das Miteinander der Konfessionen ein. Er plädiert für eine "Ökumene des Herzens".

Es gibt wenige Themen in der Kirche, bei denen die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit so offensichtlich ist wie bei der Ökumene. Der biblische Auftrag zur Einheit der Kirche ist eindeutig. "Ich bitte aber nicht allein für sie", sagt Jesus, "sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien" (Joh 17,20f). Und Paulus fragt angesichts der Spaltungen in der korinthischen Gemeinde: "Ist Christus etwa zerteilt?" (1. Kor 1,13).

Wir alle kennen die Antwort. Natürlich nicht! Umso skandalöser sind die konfessionellen Spaltungen innerhalb der einen Kirche Jesu Christi, an die wir uns viel zu sehr gewöhnt haben. Konfessionen können eine Quelle der Bereicherung für das Christuszeugnis sein. Konfessionalismus aber ist der Tod des Christuszeugnisses. Wie soll man uns denn unser Christuszeugnis abnehmen, wenn wir die Liebe Jesu Christi, von der wir so viel sprechen, noch nicht einmal in unseren Beziehungen untereinander, selbst ausstrahlen!? 

"Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt" – das war das Motto der 11. Vollversammlung des Weltkirchenrats im September 2022 in Karlsruhe. Ich verstehe dieses Motto frei nach Karl Barth in konzentrischen Kreisen. Die Einheit der Kirche, um derentwillen sich der Weltkirchenrat 1948 gegründet hat, wächst auf dem Grund des Glaubens an Christus, der im Zentrum der Christengemeinde steht und uns immer wieder neu auf das gemeinsame Zeugnis hin ausrichtet. Die auf dieser Basis gelebte Einheit der Christengemeinde ist das Zeichen, das dann auch Inspiration für die Bürgergemeinde, für die Welt, sein kann, um ihre Spaltungen zu überwinden.

Dass etwa die Kirchen in Deutschland das 500-jährige Reformationsjubiläum 2017 in ökumenischer Gemeinsamkeit gefeiert haben, war auch ein Zeichen an die Welt: Konfessionelle Gemeinschaften, die über Jahrhunderte blutige Kriege gegeneinander geführt haben, konnten diese Konflikte überwinden und sich an dem neu ausrichten, um das es auch Martin Luther immer gegangen ist: Christus neu zu entdecken. Das macht auch Mut für den Umgang mit über lange Zeit gewachsenen Konflikten in der Welt. Immer wieder habe ich Signale von außerhalb der Kirche bekommen, wie stark dieser Einheitsimpuls auch in die Welt hineingewirkt hat.

Die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Hinblick auf die Ökumene ist indessen auch danach geblieben. Trotz starker Impulse auf die Einheit hin sind wir von einer eucharistischen Gastfreundschaft zwischen Konfessionen noch immer weit entfernt. Die entsprechenden Schritte auf den Frankfurter Ökumenischen Kirchentag 2021 wurden aus Rom nicht gefördert, sondern behindert. Und auch im Weltkirchenrat ist eine Kirchengemeinschaft von Protestanten oder Anglikanern mit den orthodoxen Kirchen, einschließlich ihrer eucharistischen Dimension, gegenwärtig unrealistisch.

Kann Einheit trotz Spannung wachsen?

Wie aber kann dann die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der Ökumene ausgehalten und so gelebt werden, dass die Einheit gefördert wird?
Für eine Antwort auf diese Frage hat das im Konsens verabschiedete Einheitsdokument der Karlsruher Vollversammlung einen starken Impuls gegeben. Am Anfang steht der Aufruf zu Buße und Selbstkritik angesichts der Spaltungen in Kirche und Welt. Und dann ist von der Liebe als der entscheidenden Resilienzquelle angesichts dieser Situation die Rede: "Es ist vor allem die Liebe, die Inspiration, Fundament und Quelle unserer ökumenischen Bewegung ist. Die Liebe, die wir in Christus durch den Heiligen Geist gesehen haben, bewegt uns, gemeinsam und auf der Grundlage der Wahrheit unseres Glaubens nach Gerechtigkeit, Versöhnung und Einheit zu suchen."

Genau hier setzt der programmatische Begriff an, der die ökumenische Arbeit in der nächsten Zeit prägen soll. Wenn richtig ist, dass der Glaube an Gott und das Bekenntnis zu Christus untrennbar mit der Liebe verknüpft ist, dann kann der Glaube gar nicht anders als uns hin zur Einheit zu führen: "Die Suche nach Einheit, die von Liebe inspiriert und in einer tiefen und gegenseitigen Beziehung verwurzelt ist, kann als eine "Ökumene des Herzens" bezeichnet werden. Es ist die christusgleiche Liebe, die uns dazu bewegt, wichtig zu nehmen, was der andere aufrichtig glaubt, will und tut, und was uns in die Lage versetzen wird, ehrlich und ernsthaft nebeneinander herzugehen, zu versuchen, die Welt mit den Augen anderer zu sehen, Mitgefühl füreinander zu haben und Vertrauen aufzubauen, das so ein wichtiger Teil unserer ökumenischen Reise ist."

Von der Liebe Christi her denken

Die "Ökumene des Herzens" ist das Programmwort für einen Ökumene-Ansatz, der die institutionellen Schritte zur Einheit der Kirchen konsequent von der in den Gläubigen sichtbar und spürbar werdenden Liebe Christi und der daraus erwachsenden Gemeinschaft her denkt.

Die geistliche Erfahrung in ökumenischen Gottesdiensten oder Gebeten und das gemeinsame ökumenische Wirken im Dienst am Nächsten bekommt gegenüber der ökumenischen Arbeit in theologischen Kommissionen zur Klärung als kirchentrennend geltender theologischer Differenzen ein neues Gewicht. Solche theologischen Klärungen behalten ihre Bedeutung. Sie nehmen ernst, dass es beim Kirchesein immer auch um Wahrheit geht. Aber die Wahrheit der Kirche ist nur dann wirklich ihre Wahrheit, wenn sie konsequent von der Liebe Jesu Christi her gedacht wird. 

Was zeigen uns die biblischen Geschichten über Jesus? Über seine Worte und Taten? Es geht dabei nicht um die Richtigkeit theologischer Lehren oder die Einhaltung vorgegebener Regeln. Sondern im Zentrum steht die Beziehung. Im Zentrum steht nicht theologische Korrektheit, sondern Menschenfreundlichkeit. "Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat" (Markus 2,27). Das muss Konsequenzen für das Ringen um die Einheit der Kirche haben.

Beziehung zum Gebet und zu unseren Mitmenschen

Es gilt, dankbar zu sein für den Reichtum der konfessionellen Traditionen. Aber dabei muss immer klar bleiben, dass diese konfessionellen Traditionen niemals Selbstzweck sind, sondern allein als Tür zu Christus selbst dienen. Beziehung zu Christus im Gebet, in der Reflexion und im Handeln, heißt immer zugleich Beziehung zu unseren Mitmenschen und in besonderer Weise zu unseren Schwestern und Brüdern in Christus in der ganzen Welt. 

Wenn wir uns auf den weiteren Weg machen zu einer sichtbaren Einheit in versöhnter Verschiedenheit, dann wird die "Ökumene des Herzens" uns den Weg weisen. Gemeinsam gefeierte Gottesdienste, in denen Christinnen und Christen unterschiedlicher Konfessionen Christus gemeinsam im Gebet anrufen und seine Liebe im Gesang von Herzen loben und sie in der Seele spüren, und gemeinsames diakonisches Handeln zur Linderung menschlichen Leids werden ins Zentrum rücken. Sie werden das mindestens gleiche Gewicht haben wie Dokumente, die sich theologisch mit der Einheit auseinandersetzen, und wie Statuszuschreibungen für kirchliche Ämter, die so oft trennend gewirkt haben. Der Stand der Ökumene wird maßgeblich daran gemessen werden, ob die gelebte Ökumene in den Gemeinden vor Ort und auf den anderen Ebenen der Kirche eine "Ökumene des Herzens" erkennen lässt, wie sie das Einheitsdokument des Weltkirchenrats in den Blick nimmt. 

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz haben am 14. März 2024 das Dokument "Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit. Zu den Chancen einer prozessorientierten Ökumene" veröffentlicht. Man kann von einer Komplementarität zwischen solcher "prozessorientierter Ökumene" und der "Ökumene des Herzens" der ÖRK-Erklärung sprechen. Denn es ist letztere, die ersterer erst den richtigen Inhalt liefert. Wenn der ökumenische Prozess Erfolg haben soll, braucht er die "Ökumene des Herzens".

Die entscheidende Quelle für die Überwindung der Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in der Ökumene ist klar: die konsequente und kontinuierliche Neuausrichtung auf Christus als dem Grund und Eckstein der Kirche.