Aufbruch in die digitale Welt

Das Wort "Jesus" in einer Online-Suchzeile.
Foto: Getty Images/iStockphoto/Gajus
Wer Jesus im Netz sucht - was findet er oder sie dann?
Aufbruch in die digitale Welt
Ein Gastbeitrag zur EKD-Synode 2014
Wie kann die evangelische Kirche digital kommunizieren? Damit wird sich die EKD-Synode 2014 mit ihrem Schwerpunktthema befassen. In der Woche davor veröffentlichen wir auf evangelisch.de einige Beiträge aus dem Synoden-Lesebuch. Den Anfang macht der hannoversche Landesbischof Ralf Meister mit einige grundsätzlichen Überlegungen zu den Herausforderungen der christlichen Verkündigung in Zeiten der Digitalisierung.
03.11.2014
Lesebuch zur EKD-Synode 2014

Seit 1995 ist die hannoversche Landeskirche mit einer Homepage im Internet präsent. Seitdem hat sich die Netzwelt in einem Ausmaß entwickelt, das niemand vorhersehen konnte. Die Internetpräsenzen unserer Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Sprengel, des Landeskirchenamts, des Landesbischofs, die Chatseelsorge, Online-Glaubenskurse und viele andere Websites sind anerkannt, und niemand zweifelt an ihrer Notwendigkeit. Diese Form der Nutzung digitaler Medien ist jedoch inzwischen nur ein Teil der Möglichkeiten, die das Netz bietet. Anbieter wie Facebook, Google+, WhatsApp, Twitter, YouTube und andere haben die Herrschaft übernommen. Sie werden als "soziale Medien" (Social Media) bezeichnet, weil sich in ihnen die Nutzerinnen und Nutzer untereinander austauschen und gemeinsam Inhalte erstellen können. Allein bei Facebook loggen sich 829 Millionen Menschen mindestens einmal am Tag ein.

In den sozialen Medien sind die Kirchen, die Gemeinden und die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stark unterrepräsentiert, auch wenn durchaus Einrichtungen, Gemeinden, Gruppen oder Initiativen bereits dort vorkommen. In der hannoverschen Landeskirche sind circa 200 von insgesamt weit über 2000 Gemeinden und Einrichtungen auf Facebook vertreten. Manche dieser Präsenzen lassen erkennen, dass der nötige kontinuierliche Input kaum gelingt. Social-Media-Experten weisen deshalb stets darauf hin, dass erfolgreiche Auftritte in diesen Medien nicht nur ein Konzept, sondern auch erhebliche personelle Ressourcen erfordern.
Europäisches Medienrecht fehlt

Es gibt jedoch die Diskussion, ob kirchlich-religiöse Angebote überhaupt in dieses Umfeld gehören. Die Vorbehalte sind zum einen die kommerzielle Ausrichtung der Anbieter, die sich vor allem in der ständig mitlaufenden Werbung zeigt. Zum anderen wird die Frage des Datenschutzes intensiv diskutiert, da die Anbieter die persönlichen Daten der Nutzer sammeln, um beispielsweise personalisiert werben zu können. Nach wie vor fehlt ein allgemeines europäisches Medienrecht. Dazu kommt, dass die sozialen Medien durch zahlreiche Fälle von Cybermobbing – insbesondere bei Schülerinnen und Schülern – in Verruf geraten sind. Die Komplexität der sozialen Medien zeigt sich auch darin, dass mehrere Landeskirchen inzwischen praktisch orientierte Leitfäden für die Nutzung der sozialen Medien herausgegeben haben, um Gemeinden und Einrichtungen bei ihrem Auftritt zu unterstützen. Ein Beispiel: Ein Pastor oder eine Diakonin muss sich überlegen, in welcher Rolle er oder sie auftritt – beruflich oder privat – und ob sich familiäre mit dienstlichen Kontakten vermischen dürfen.

Digital ist real

Viele so genannte Digital Immigrants – Personen, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind – unterscheiden immer noch analoge und digitale Räume. Seit Jahrzehnten denken wir das Internet als "virtuelle Realität" oder als "Cyberspace" – beide Begriffe sind von Romanautoren in den 1980er Jahren geprägt worden. Diese Begriffe suggerieren, man könne den Cyberspace bzw. die virtuelle Realität als isolierte Räume betrachten, in denen etwas passiert, das von der "eigentlichen" analogen Realität unterschieden sei. Diese Unterscheidung von Realitäten mag einen heuristischen Wert haben, um die Eigenarten der Netzwelt zu charakterisieren. Die computergenerierte Kommunikation ist jedoch genauso wirklich, wie ein Gedanke wirklich ist.

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Die Kommunikation der Kirche muss sich mit den Charakteristika der digitalen Medien auseinandersetzen – so wie sie sich mit den massenhaft verbreiteten Flugblättern in der Reformationszeit, dem Aufkommen des Rundfunks und Fernsehens auseinandersetzen musste. Und sie muss – sofern noch nicht geschehen – aufhören, die digitalen Medien als andere Realität und damit als einen Sonderfall für Spezialisten zu betrachten. Denn die Generation der "Digital Natives" – Jugendliche und junge Erwachsene, die mit dem Internet groß geworden sind – unterscheidet nicht mehr zwischen analogen und virtuellen Räumen.

Die Orte für religiöse Kommunikation haben sich erweitert und Menschen jeden Alters kommunizieren heute auch in Chats und sozialen Netzen über religiöse und seelsorgerliche Themen. Die Kirchen stehen vor der Aufgabe, sich mit allen Orten religiöser Kommunikation vertraut zu machen. Dabei gilt für eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Institution wie die Kirche selbstverständlich, dass die digitale Kommunikation die Face-to-Face-Kommunikation nicht vollständig ersetzen kann. Das Abendmahl, um nur ein Beispiel zu nennen, funktioniert nicht digital.

Paulus im Shitstorm

Die christliche Religion wird medial verbreitet. Selbstverständlich gehört zu einer christlichen Gemeinde die Gemeinschaft und gehören zu den Verkündigungsinhalten die Menschen, die sie bezeugen und leben. Aber schon Paulus hat zu einem wesentlichen Teil medial gewirkt, und zwar durch Briefe. Wir vertrauen darauf, dass religiöse Inhalte eine Wirkung entfalten, die wir dem Heiligen Geist zuschreiben. Theologisch gesehen gibt es keinen Grund, nicht auch auf die Wirkung religiöser Inhalte in sozialen Medien zu vertrauen. Dies gilt zum Beispiel für die Seelsorge im Internet, die als Chatseelsorge inzwischen mehr als zehn Jahre lang Erfahrung gesammelt hat. Neu ist auch, dass bei der Verkündigung im Internet die Grenzen zwischen hauptamtlich und privat verschwimmen, wenn zum Beispiel ein Jugendlicher einen religiösen Blog publiziert.

Religiöse Texte, Predigten und seelsorgerliche Ansprache dürfen und sollen sich auch in unbekannte und gefährliche Gebiete wagen. Eine Schlüsselszene hierfür ist die Rede des Paulus auf dem Areopag, die in der Apostelgeschichte berichtet wird. In dem mit Götzenbildern reichlich ausgestatteten Athen, also in einem feindlichen Umfeld, verkündigt Paulus aus Wut über die Götzenbilder "das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung" (Apostelgeschichte 17,18). Die Reaktion war so, wie sie heute in einem sozialen Netzwerk auch sein könnte: "Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten; die anderen aber sprachen: Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören!" (Apostelgeschichte 17,32).

So wie sich Paulus auf die fremde Kultur einlassen und einen "Shitstorm" über sich ergehen lassen musste, so müssen die Kirchen die neuen Medien als kulturelle Herausforderung begreifen. Die mediale Welt kann für die Kirchen nicht bei Telefonseelsorge, Rundfunkandachten und Gottesdienstübertragungen im Fernsehen enden. Die Herausforderung der neuen Medien ist, Kulturtechniken für den Umgang mit ihnen zu entwickeln.

"Wir erschaffen eine neue Welt"

Das Netz spielt eine beherrschende Rolle. Damit rücken die Agenten des Netzes in den Fokus und die Frage, wer eigentlich das Netz beherrscht und ob es eine Kontrolle der Netzagenten gibt. 1996 – lange vor Google, Facebook und Co. – schrieb John Perry Barlow, Autor, Bürgerrechtler und einer der Gründer der "Electronic Frontier Foundation" in seiner "Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace": "Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes erschaffen. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten." Dies war eine Reaktion auf den Versuch einer Internetzensur durch den "Telecommunication Reform Act" der amerikanischen Regierung. Der Cyberspace, "die neue Heimat des Geistes", so Barlow, "besteht aus Beziehungen, Transaktionen und dem Denken selbst, positioniert wie eine stehende Welle im Netz der Kommunikation. Unsere Welt ist überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben. Wir erschaffen eine Welt, die alle betreten können ohne Bevorzugung oder Vorurteil bezüglich Rasse, Wohlstand, militärischer Macht und Herkunft. Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen."

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Diese hochidealisierte Erklärung zeigt angesichts der Bedrohung durch die heutigen Internetgiganten eine verblüffende Aktualität. Zwei aktuelle Veröffentlichungen untermalen das: Der Google-Chef Eric Schmidt und sein Mitarbeiter Jared Cohen haben ein Buch mit dem Titel "Die Vernetzung der Welt" geschrieben: "Es beschreibt eine politische Utopie", in der nur noch Technik eine Rolle spiele, so die Rezensenten der "Zeit". Google will mehr als Umsatzsteigerung: "Google will eine Ideologie verbreiten." In dem zweiten Buch hat der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers "den Roman unserer Zeit geschrieben: 'Der Circle' zeigt die Welt im Griff der Internetindustrie", schreibt die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung". In dem Roman sind aktuelle Tendenzen auf die Spitze getrieben. So herrscht etwa ein absolutes Transparenzgebot, und Privatsphäre gibt es nicht mehr. Dave Eggers sagte, angesprochen darauf, ob er noch Hoffnung habe: "Ich bin zum Beispiel sehr ermutigt durch das, was in Deutschland geschieht, die Proteste, die Klagen gegen die Internetkonzerne." Er fordert "eine neue Erklärung der Menschenrechte, über die Rechte von Individuen im digitalen Zeitalter und über den Schutz unserer Privatsphäre". Dieser Forderung nach einer erweiterten Erklärung der Menschenrechte im Blick auf digitale Identität können sich die Kirchen prinzipiell anschließen.

Gleichzeitig sollten die Kirchen Internet-Kompetenzzentren errichten. In Schulungen würden diese den individuellen Umgang mit Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, mit Datenschutz und digitalen Identitäten vermitteln. Sie könnten Fachleute dafür ausbilden, theologische und religionspädagogische Inhalte mediengerecht in die Netze zu übertragen. Und es sollten Orte sein, an denen über Medienethik in den Netzen nachgedacht wird.

Und Google Glass zeigt die Gottesdienstzeiten?

Der christliche Glaube beansprucht die religiöse Interpretation der Wirklichkeit ohne Ausnahme. Die Kommunikation der Kirche in den digitalen Medien ist deshalb keine Sonderform, sondern eine Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten und eine dringend notwendige Stimme gegen religiös überhöhte Heilsversprechen von Netzwerkbetreibern. Die Forderung nach einer Erklärung der Menschenrechte für das digitale Zeitalter, die Aufklärung und Stärkung der User und Proteste gegen Übergriffe von Internetkonzernen sind gute Strategien, um eine sinnvolle Nutzung der sozialen Netzwerke zu gewährleisten. Gleichzeitig müssen die Kirchen die bestehenden Organisationen, die sich gegen menschenverachtende und rassistische Ausschreitungen im Netz wehren, unterstützen (etwa jugendschutz.net).

Die christlich-religiöse Interpretation der Wirklichkeit ist aber nicht nur eine Frage der Präsenz in den sozialen Netzwerken. Sie ist auch eine Frage nach den Machtstrukturen, die der Verteilung von Informationen zugrunde liegen. Dazu ein Gedankenspiel: Nehmen wir an, dass immer mehr Menschen die so genannte Augmented Reality, die erweiterte Realität, nutzen, wie sie z. B. durch Google Glass bereitgestellt wird. Via Internet werden Informationen ins Blickfeld eingespielt. Was passiert in Zukunft, wenn jemand an einer Kirche vorbeigeht? Welche Informationen werden in die permanente Verbindung eingespielt? Werden die nächsten Gottesdienste angezeigt, taucht das Bild der Pastorin auf, gibt es Informationen über die Landeskirche oder sind vielleicht kirchenkritische Texte im Angebot? Was passiert in Zukunft, wenn jemand an einem Friedhof vorbeigeht? Stehen Informationen darüber bereit, wie verschiedene Religionen das Leben nach dem Tod sehen?

Die Frage nach dem Zugang zu Informationen und ihrer Verteilung wird für die Kirchen wichtig werden. Sie müssen sich für eine Struktur einsetzen, bei der gewährleistet ist, dass die Inhalte aller gesellschaftlichen Kräfte gleichberechtigt behandelt und Informationsmonopole vermieden werden. Gleichzeitig müssen sich die Kirchen intensiv um die Inhalte kümmern, die in der Augmented Reality präsent sein sollen, und dafür erhebliche Ressourcen bereitstellen.