Rassismus – die "neue Erbsünde"

Amerikanische Kirche vor blauem Himmel
Joshua Teichroew / Unsplash
Emmanuel Kileo von mission.de fordert einen bewusste Umgang mit Rassismus in der Kirche - nicht nur weit weg in den amerikanischen Bundesstaaten.
Mission.de
Rassismus – die "neue Erbsünde"
Sind rassistische Strukturen nur ein historisches Erbe unserer Kirchengemeinden und leicht zu überwinden? Oder steckt Rassismus unbewusst oder bewusst in uns als Gemeinde? Oder sogar in mir als Person? Sich dessen unvorbereitet bewusst zu werden, kann sehr verstörend sein, meint Emmanuel Kileo und erklärt, wie es gelingen kann, rassistische Strukturen in Kirche und Gesellschaft zu erkennen und sich aktiv für deren Überwindung einzusetzen.

Rassismus gilt als die "neue Erbsünde" oder ist, wie es in Amerika heißt, "America’s Original Sin". Für viele Kirchen ist Rassismus eine belastende Verfehlung der weißen oder europäischstämmigen Kirchen und sie fordern radikale Maßnahmen im Umgang mit dieser Problematik. Denn bei vielen Christ:innen setzt sich die Erkenntnis durch: Die neue Erbsünde ist nicht irgendwo weit weg in amerikanischen Bundesstaaten zu finden, in denen viele Rechtsextremist:innen ansässig sind.

Man findet sie auch nicht zwingend in den so genannten sozialen Brennpunkten bei gesellschaftlichen Randgruppen oder am Bahnhof, wo betrunkene Seelen ihrem Hass auf alles Fremde freien Lauf lassen. Nein, die Erbsünde ist in mir! Denn es ist nicht abwegig, dass ich bewusst oder unbewusst rassistisch bin. Sich dessen aber so unvorbereitet bewusst zu werden, kann sehr verstörend sein! Für die katholische Kirche in Amerika scheint dies jedoch klar zu sein. So bekräftigt der päpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden: "… Rassismus existiert immer noch und taucht in verschiedenen Formen immer wieder auf. Es klafft eine Wunde in der Seite der Menschheit, die auf mysteriöse Weise offen bleibt. Deshalb muss jede:r mit großer Entschlossenheit und Geduld Anstrengungen unternehmen, um sie zu heilen." 

Wenn es Gemeinden klar wird, dass sie in rassistischen Strukturen leben, dann werden sie nicht mehr sagen "Kirche ohne Rassismus ist möglich", als seien sie nicht davon betroffen, sondern werden sie sofort mit Hilfe ihrer Pastor:innen anpacken und sich kritisch mit den rassistischen Strukturen in der Kirche und der Gesellschaft auseinandersetzen. Das heißt also: Man soll den Blick nicht mehr nur auf die Opfer von Rassismus richten, so nach dem Motto: "Oh je, die armen People of Color – oder wie sie immer heißen mögen – leiden viel bei uns, das ist sehr schlecht in unserer Gesellschaft." Nein, das reicht nicht! Man muss sich auch kritisch fragen: Wie profitiere ich seit Jahren von diesen rassistischen Strukturen und wie kann ich bestimmte, unverdiente Privilegien reduzieren, mich davon lossagen oder sogar abgeben.

Die ersten Symptome für eine rassistische Gemeinde sind klar: Menschen werden offen oder subtil ausgegrenzt, hierarchisiert, herabgesetzt, entwürdigt oder beschränkt, sodass sie nicht alle kirchlichen Ressourcen in Anspruch nehmen können. Hautfarbe, Körpermerkmale, Religion, ethnische Zugehörigkeiten und Herkunft mögen eine Rolle spielen, wenn solche Ausgrenzungen passieren oder wenn das Gemeindeleben gestaltet wird. Das kann dann zum Beispiel so aussehen: Nicht-Weiße, manchmal auch Weiße aus einer anderen Glaubenstradition oder Spätaussiedler:innen dürfen zwar den Gemeindebrief austeilen, aber nicht im Kirchenvorstand mitwirken.

"Checkliste" für rassistische Strukturen

Hinzu tritt ein anderes Verhalten: Ganz beliebig werden oft alle Menschen als "gleich" angesehen, "wir sind ja alle gleich", biologisch gleich schon, aber sozial doch nicht mehr! Wir haben eine historische Ungleichheit aufgebaut und diese bleibt unreflektiert. Dieses Phänomen nennt man inzwischen auch "Farbenblindheit". Diese unreflektierte Haltung führt in unseren Gemeinden nicht selten auch dazu, dass man über die unverdienten Privilegien der schon länger ansässigen Gemeindeglieder nicht nachdenkt und folglich von diesen ungerechtfertigten Privilegien nicht abgibt oder sie teilt: Egal wie man die Privilegien erworben hat, aufgrund sozialer Herkunft oder wirtschaftlicher Vorteilsnahme, man gibt oder teilt sie nicht.

Schauen wir jedoch auf ein anderes Phänomen der jüngsten Zeit: Immer mehr Institutionen, Museen und auch Missionsorganisationen kümmern sich darum, dass einstmals unrechtmäßig erworbene oder geraubte Kulturgüter wie Reliquien, Kunst- oder Alltagsgegenstände und vieles mehr wieder dorthin zurückgeführt werden, wo sie hingehören. Denn, so die Überzeugung, was uns nicht gehört, muss zurückgebracht werden. Das kann eine Kirchengemeinde auch tun, wenn sie Gegenstände dieser Art besitzt und sich fragt: Behalten wir Sachen, Kunst, Malerei und anderes, was in der Kolonialzeit erworben wurde?

Rassismus in der eigenen Gemeinde: Was tun?

Und dann noch diese Beobachtung zur Darstellung anderer Menschen in unseren Gemeinden: Weihnachtskrippen sind leider oft sehr rassistisch, wenn die Anderen anders als wir, genauer gesagt mit explizit hervorgehobenen und überzeichneten Merkmalen, dargestellt werden – meistens mit großer Nase, wulstigem Mund und ohne sämtliche Schönheiten. In Ulm wurde vor Kurzem so eine rassistische Krippe an die Stifterfamilie zurückgegeben, nachdem sie viele Jahre in der Kirche stand. Was für einen Schaden sie bis dahin schon angerichtet hat, dem wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. 

Opfer von Rassismus sind bekannt in den Gemeinden, man will aber keine Solidarität mit ihnen zeigen. Sollten unsere Gemeinden sich nicht wie Jesus mit ihnen identifizieren? Oder kommen sie allein zurecht? Was nutzt es uns als Gemeinde, wenn wir nur für die Privilegierten da sind? Jesus war für die Marginalisierten da! Und vielleicht ist er genau für sie gekommen. Wenn eine Gemeinde denkt, dass sie ja nicht rassistisch sei, führt das leider eher zum Gegenteil, denn es findet keine kritische Reflexion statt. Das bedeutet, eine permanent selbst-kritische Haltung gegenüber Rassismus einzunehmen, ist der Anfang, nicht rassistisch zu sein, und umgekehrt.

Schauen wir noch auf einen anderen Aspekt, der für das Thema "Rassismus" relevant ist und auf den die Gemeinde schauen sollte: Viele Opfer sind schon traumatisiert. Das wäre für eine Gemeinde sehr herausfordernd, konkret mit so einem Fall konfrontiert zu werden. Und viele Gemeinden wären damit auch überfordert, sich der Realität zu stellen und die Wahrheit zu akzeptieren. Und dennoch gibt es als Gemeinde Möglichkeiten des Umgangs damit, indem man vielleicht aus traumatischen Erfahrungen anderer lernt, die Geschichte des Rassismus gemeinsam bearbeitet, dazu Bibeltexte gemeinschaftlich liest, die auch zeigen, dass der Sinn des Lebens auch in praktizierter Inklusivität besteht, gemeinsam Exkursionen mit Menschen aus anderen Ländern unternimmt, um Diversitätsbewusstsein anzuregen, gemeinsam die antikoloniale Sprache fördert usw. Keine Kirchengemeinde ist so schwach, dass sie nicht mit einem dieser Vorschläge anfangen könnte.

Die Spitze der Spitze des Eisbergs

Bleibt ein letzter Wunsch: Wenn die Kirche sich mit Diskriminierung und Missbrauch auseinandersetzt, sollte sie doch auch versuchen, eine Studie zu Rassismus seit dem Ende des Nationalsozialismus und seiner Rasseideologie zu machen. Davon würden wir viel lernen: Etwa, was seitdem in der Kirche passiert ist und ob und wie sich der bewusste Umgang mit Rassismus in der Kirche entwickelt hat. Denn eines ist sicher: Einfach eine rassistische Krippe aus der Kirche rauszuschmeißen, reicht nicht. Das ist nur die Spitze der Spitze des Eisbergs.

Letztendlich geht es auch um die Ausbildung unserer Pastor:innen. Die Kirche soll doch endlich einmal klar sagen: Es gibt keine "normale weiße Theologie" und die andere "interkulturelle" oder wie es auch abwertend heißt "exotische Theologie". Theologie ist im Kern interkulturell, alles andere ist un-theologisch. Die weiße europäische Theologie ist längst gescheitert. Fortbildungen zu "Rassismuskritische Kirche", "Kritisches Weißsein" und "Diskriminierungssensibilität" sichern die Inklusivität in der Kirche. Das Evangelium ist im Kern inklusiv. Unsere Gemeinden sollten daher auch inklusiv und vielfältig sein, denn das Reich Gottes ist es auch.

evangelisch.de dankt der Evangelischen Mission Weltweit und mission.de für die inhaltliche Kooperation.

Emmanuel Kileo ist promovierter Theologe, Pfarrer und Direktor des Evangelisch–lutherischen Missionswerks in Niedersachsen. Er ist überzeugt: Partnerschaften sind wichtig, um unsere Fragen des Glaubens und der Entwicklung gemeinsam anzugehen.