"Wir wollen ein Ort für alle sein"

Gebärdensprache auf Laptop
© Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße
Die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße bietet Menschen mit Beeinträchtigungen individuelle Führungen an.
Inklusive Führungen in Potsdam
"Wir wollen ein Ort für alle sein"
Die Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße 54 hat eine lange Geschichte: 1734 als Kommandantenhaus erbaut, wurde erst 2013 die Stiftung gegründet, die Interessierten die Geschichte der rassistischen und politischen Verfolgung näherbringen will. Dabei spielen inklusive Führungen eine wichtige Rolle. evangelisch.de-Redakteurin Alexandra Barone hat die Inklusionsprojektleiterin Martina Reimann zu einem Gespräch getroffen.

Evangelisch.de: Die erste Frage ist natürlich, worin sehen Sie die Hauptaufgabe dieser Stiftung?

Martina Reimann: Die Aufgabe der Stiftung Gedenkstätte Lindenstrasse ist die Erinnerung, Forschung und Bildung zu drei unterschiedlichen Verfolgungsepochen: der NS-Diktatur, der Zeit der sowjetischen Besatzung und der DDR. Es sind Zeiten, in denen hier Menschen politisch beziehungsweise rassistisch verfolgt wurden. Natürlich ist unser Ziel, möglichst viele Besucherinnen und Besucher mit unseren Angeboten zu erreichen, dabei stellt uns das Gebäude aber vor Herausforderungen. Weder in den 1730er Jahren, als es als prachtvolles Stadtpalais gebaut wurde, noch als dann im frühen 20. Jahrhundert der aktuelle Gefängnisbau entstanden ist, hat man an Zugänglichkeit und Mobilitätseinschränkungen gedacht. Das sind alles Dinge, denen wir uns heute vermehrt stellen müssen. Unser Haus soll ein Ort für alle Menschen sein und eben darum bieten wir auch inklusive Formate an.

Neben Tast-Führungen für sehbehinderte Menschen bieten Sie auch Führungen in leichter Sprache an. Nun haben Sie auch ein Angebot für gehörlose Menschen entwickelt. Wie kann ich mir das vorstellen?

Reimann: Der Guide in Deutscher Gebärdensprache ist erstmal entstanden im Rahmen des Projektes "Vergangenheit verstehen". Dieses Inklusionsprojekt wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. Im Rahmen von "Vergangenheit verstehen" gehen wir in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und machen dort historisch-politische Bildungsarbeit zum Thema Nationalsozialismus. Denn das Gebäude der Gedenkstätte Lindenstraße war nicht nur ein Gefängnis, sondern auch ein Gerichtsort. Hier hat ab 1934 ein sogenanntes Erbgesundheitsgericht getagt. Die Erbgesundheitsgerichte haben über Zwangssterilisationen angeblich "erbkranker" Personen entschieden – das ist ein nationalsozialistischer Begriff, der zum Beispiel Menschen mit Behinderungen einschließt.

"Der neue DGS-Guide kommt in den Werkstätten zum Einsatz, die Besucherinnen und Besucher können ihn sich demnächst aber auch hier am Eingang ausleihen."

Dieses Projekt ist jetzt in die zweite Phase gegangen, das heißt, wir haben die Zielgruppe noch mal erweitert. So haben wir Möglichkeiten geschaffen, Menschen mit Beeinträchtigung des Sehens und auch des Hörens in unser Angebot einzubeziehen. Der neue DGS-Guide kommt in den Werkstätten zum Einsatz, die Besucherinnen und Besucher können ihn sich demnächst aber auch hier am Eingang ausleihen. Neben dem Audio-Guide werden dann 22 Videos vorliegen, die in Gebärdensprache jeweils alle Stationen im Haus erklären. Wir sind noch in der technischen Umsetzung, aber möchten das bis Ende April bewerkstelligen.

Was waren denn die größten Herausforderungen bei der Umsetzung?

Reimann: Für uns war die Herausforderung in der Umsetzung erst mal, herauszufinden, wie so etwas überhaupt produziert wird, auf welche Kriterien wir achten müssen. So mussten beispielsweise einige Texte aus dem Audio-Guide angepasst werden, weil die Grammatik in deutscher Gebärdensprache noch mal anders strukturiert ist als die deutsche Grammatik. Das haben natürlich Experten übernommen, die auf die deutsche Gebärdensprache spezialisiert sind.

Neben den Guides gibt es auch Workshops?

Reimann: Ja, in den Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten Personen mit sehr heterogenen Voraussetzungen. Das bedeutet, in den Workshops arbeiten wir auch mit gehörlosen Menschen zusammen und bedienen uns da aus einer Bandbreite von Kommunikationsmethoden. Wir arbeiten beispielsweise viel mit Piktogrammen, aber auch teilweise mit Schrift. Das ist sehr individuell, weil ja auch einige Gehörlose noch zusätzlich kognitive Einschränkungen haben und somit nicht alles in Gebärdensprache verstehen können. Es ist ein Mix aus verschiedenen Kommunikationsmethoden. Bei den Gesprächen mit den Zeitzeugen ist dann auch ein Übersetzer dabei.

Sie sprechen in den Workshops mit den beeinträchtigten Menschen die Geschichte des sogenannten Erbgesundheitsgerichts im Nationalsozialismus an, das vielfach Zwangssterilisierungen durchgesetzt hat. Wie sind denn die Reaktionen der Teilnehmenden?

"Den Betroffenen wird klar, dass sie mitentscheiden können und selbst Politiker oder Politikerin werden könnten."

Reimann: Uns ist klar, dass dies ein sensibles Thema ist, was durchaus berühren kann. In der Vermittlung arbeiten wir viel mit Biografien, bei denen die Teilnehmenden natürlich durchaus Parallelen ins eigene Leben ziehen können. Daher ist es sehr wichtig, aus diesem Thema auch wieder herauszuleiten. Der Workshop gliedert sich in sechs Teile: drei davon beschäftigen sich mit dem historischen Teil und die anderen damit, wie die Situation für Menschen mit Behinderungen heute ist. Dabei legen wir den Schwerpunkt auf die Vermittlung der veränderten Gesetzeslage, auf die Menschen mit Behinderungen selber Einfluss hatten und haben, denn es war ja letzten Endes die Behindertenbewegungen, die dort sehr viel öffentlich gemacht hat und sich auch sehr stark dafür eingesetzt hat, dass zum Beispiel die Sterilisationsgesetze geändert wurden. Wir zeigen Betroffenen damit Möglichkeiten der politischen Partizipation.

Die Reaktionen auf den historischen Teil sind schon sehr betroffen, aber der zweite Teil der Workshops ist sehr positiv: den Betroffenen wird klar, dass sie mitentscheiden können und selbst Politiker oder Politikerin werden könnten. Viele denken nämlich, sie bräuchten dafür eine besondere Ausbildung, die ein besonderes Studium voraussetzt. Wir vermitteln ihnen, dass auch Menschen mit Behinderungen sich politisch beteiligen können - sei es durch Petition, sei es durch Demonstration, sei es durch einen politischen Abend auf kommunaler Ebene oder auch auf Bundesebene. Das stößt natürlich auf positive Reaktionen.

Sie bedienen sich dabei auch der Leichten Sprache?

Reimann: Ja, wir bedienen uns der Prinzipien der Leichten oder Einfachen Sprache. Das ist generell wichtig, denn in der Gesellschaft sind, auch abseits sogenannter "Behinderung", große Unterschiede im Sprachverständnis vorhanden. Das hängt vom Bildungsstand, aber auch viel von der eigenen Erfahrung, der individuellen Entwicklung und dem sozialen Umfeld ab. In der Leichten Sprache werden komplexe Begriffe und Zusammenhänge nach bestimmten Regeln in einfachen Satz- und Wortstrukturen ausgedrückt. Wir arbeiten auch viel mit Bildern und sehr partizipativ. Damit können wir uns recht gut auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Beteiligten einstellen und sie entsprechend abholen. Wichtig bei der Leichten Sprache ist auch, dass wir die Sprache vereinfachen, aber keinesfalls komplexe Themen vermeiden: so geht es bei den Workshops um Aspekte wie politischen Aktivismus, Mitbestimmung am Arbeitsplatz oder sexuelle Selbstbestimmung. Wir verstehen uns als offenes und inklusives Haus – um diesen Anspruch einzulösen, wollen wir weiterhin Barrieren abbauen.

Die Guides in Gebärdensprache stehen ab 27. April in der Gedenkstätte Lindenstraße bereit. Zwischen dem 27. April und dem 26. Mai bietet die Gedenkstätte darüber hinaus mehrere Veranstaltungen anlässlich der Inklusionstage der Landeshauptstadt Potsdam. Das vollständige Programm finden Sie auf der Website der Landeshauptstadt.