Mit Gebeten im Wind den Menschen Wert geben

Susanne Schmidt-Lüer
Katalin G., inhaftiert in der Justizvollzugsanstalt III in Frankfurt-Preungesheim, und Meo K., nach neun Monaten Untersuchungshaft entlassen, vor den Gebetsfahnen.
Mit Gebeten im Wind den Menschen Wert geben
Der Wind bläst durch bunte Stoffe, bläht sie auf, lässt sie zittern, wieder zur Ruhe kommen. An einer langen Schnur aufgeknüpft, wehen die Gebetsfahnen im Garten des Exerzitienhauses der Franziskaner im hessischen Hofheim. Passanten bleiben stehen, lesen Texte, schauen auf Muster, greifen selbst zu einem Stift und schreiben eigene Gebete und Wünsche auf die im DIN A-4-Format genähten Wäschestücke und andere Stoffreste.

Es ist ein ungewöhnliches Projekt, das sich das Team der jährlichen Pfingstfreizeit für Familien im franziskanischen Exerzitienhaus zum Thema "Farbe bekennen" ausgedacht hat. In der Tradition der tibetischen Gebetsfahnen, die langsam verwittern und ihre aufgedruckten Gebete mit dem Wind zum Himmel tragen sollen, bat das Team inhaftierte Frauen in der Justizvollzugsanstalt III in Frankfurt-Preungesheim, für das Pfingstwochenende eigene Gebetsfahnen aus Stoffresten zu nähen. "Wir wollten ein großes Netz der Verbundenheit schaffen", sagt einer der Organisatoren, Pastoralreferent Hans-Peter Labonte. Die tibetische Tradition hatten zuvor schon Frauen aus Mexiko aufgegriffen. Eine dieser nach indianischer Tradition gestalteten Gebetsfahnen hatte der US-amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr aus New Mexico nach Hofheim mitgebracht und das Projekt so ins Rollen gebracht.

"Anfangs wurde uns ein bisschen schlecht, nachdem wir errechnet hatten, wie viele Gebetsfahnen es sein müssen", sagt die inhaftierte Katalin G., die zur Vorstellung des Projektes zusammen mit Gefängnisseelsorgerin Beatrix Smerekovska nach Hofheim reisen konnte. Jetzt ist es geschafft: Dicht an dicht mit einfarbigen, zart schimmernden oder kräftig gemusterten Stoffen behängt, zieht sich eine Kette vom Exerzitienhaus an Straßenrändern und Waldwegen entlang bis zur Bergkapelle hinauf.

Bewegende Zeugnisse, aufgereiht im Wind

Die 1,1 Kilometer lange Strecke rechtzeitig zu Pfingsten zu bestücken bedeutete, 4.000 Stoffreste zuzuschneiden, zu nähen, manche mit eigenen Gedanken, Sehnsüchten, Wünschen zu gestalten. "Ja, wir können das", beschlossen die inhaftierten Frauen bereits im Januar. Kistenweise gespendete Stoffe wurden ins Gefängnis gebracht, Nähmaschinen und Scheren geordert, keine Selbstverständlichkeit in einem Gefängnis der Sicherheitsstufe 1, sagt Seelsorgerin Beatrix Smerekovska, die die Anstaltsleitung aber rasch von der Idee überzeugen konnte. Sieben Frauen aus der Gruppe der katholischen Gefängnisseelsorge engagierten sich über Monate hinweg und motivierten auch viele andere, sie zu unterstützen. Es begann ein regelrechter Wettbewerb, manche Frauen nähten 500, 600 Stoffstücke zu.

Auch die Buddhistin Meo K. war dabei. "Dieses Projekt hat mir das Gefühl zurückgegeben, dass ich ein Mensch mit Fähigkeiten und mit Wert bin." Seit wenigen Tagen ist die 30-jährige, die neun Monate lang in Untersuchungshaft saß, wieder frei. An der Seite ihrer Tante ist sie ins Exerzitienhaus gekommen. Sie erzählt, wie skeptisch ihre Tante anfangs war, ob ein in der Haft entstandenes Projekt auch ernsthaft sein könne. "Machst Du keinen Mist mehr?", hatte sie noch vor dem Aufbruch nach Hofheim gefragt. "Als sie dann sah, was wir gemacht haben, drückten ihre Augen etwas ganz anderes aus als vorher", erzählt Meo und lächelt.

Es sind bewegende Zeugnisse, die Meo und andere gefangene Frauen auf die Stoffe schrieben, malten oder stickten. "Ich liebe meine Kinder!" steht zwischen drei fliegenden Tauben, die rote Herzen in den Schnäbeln tragen. Veronika und Nikolas steht in Lila und Blau darunter. "Antonella, Du fehlst mit sehr", hat eine andere auf ihr Stoffstück geschrieben. Eine gemalte Frau mit starken großen Flügeln, das Gesicht verborgen, die Füße im Wasser, sitzt neben dem Bekenntnis "Nader ich liebe dich!"

"Wir sind alle einzigartig, wie unsere Fahnen"

Die Frauen überlegten sich, was das eigentlich heißt, "Farbe zu bekennen" an einem Ort, an dem die Masken sowieso schnell fallen, weil man dichter zusammenlebt als anderswo. Katalin G. formuliert, was Farbe bekennen für sie bedeutet: "Viele verheimlichen, dass sie in Haft sind. Ich tue das nicht." Deshalb spricht sie offen über ihren Alltag im Offenen Vollzug im Gefängnis und beteiligt sich an Aktionen, die Verbindungen herstellen zwischen diesseits und jenseits der Gefängnismauer. Sie muss eine zehnjährige Haftstrafe verbüßen und hofft, dass ihr ein Drittel erlassen wird, offizieller Entlassungstermin ist im März 2016.

Zurzeit macht sie eine zweijährige Ausbildung als Köchin in der Lehrküche der Haftanstalt. Nach ihrem Arbeitsumschluss, der um 6.55 Uhr beginnt und um 15 Uhr endet, steht auf dem Tagesprogramm ab 15.45 Uhr Einschluss oder Hofgang. Ab 17 Uhr werden die Zellentüren auf der Station wieder aufgeschlossen. In der Woche bleibt so bis 20 Uhr Zeit, mit Nachbarinnen Kaffee zu trinken oder zu kochen, an einem Deutschkurs, Sport oder anderen Angeboten teilzunehmen. Dienstags sind die Zellen auf der Station bis 21 Uhr geöffnet, von Freitag bis Sonntag ist schon um 17.45 Uhr Einschluss.

Katalin G. ist jetzt im Offenen Vollzug, nicht mehr auf der "Zelle", sondern in einem "Zimmer", wie es offiziell heißt. Von dort kann sie den Frankfurter Fernsehturm sehen, den sie genau wie betende Hände und ein vielfarbiges gesticktes Kreuz auf Gebetsfahnen gebannt hat. "Meine Familie steht hinter mir", sagt sie und erinnert daran, wie schnell jeder im Gefängnis landen kann: "Ein Autounfall, bei dem jemand zu Schaden kommt, zum Beispiel. Manche Frauen sind wegen Schwarzfahren hier." Nicht alle, die inhaftiert sind, kommen aus zerrütteten Familien: "Wir kommen aus allen Schichten", betont die 42-jährige. So steht es auch auf einer der Gebetsfahnen, die noch bis Pfingstmontag im Wind auf dem Hofheimer Kapellenberg wehen: "Wir sind alle einzigartig, wie unsere Fahnen."